­
­
­
­

Kantone lockten US-Konzerne mit Steuergeschenken an – und können ihre Versprechen nicht mehr einhalten

Bislang unbemerkt stopfte die OECD ein Schweizer Steuerschlupfloch rückwirkend und bringt damit einige Kantone in die Bredouille. Bundesparlamentarier wollen ihnen nun zu Hilfe eilen.
von Doris Kleck
Auch dank US-Konzernen sprudelten in Schaffhausen die Steuereinnahmen. Nun fürchtet der Kanton um seine besten Steuerzahler. (Bild: ALESSANDRO DELLA VALLE)
Finanzminister Karin Keller-Sutter akzeptierte neue OECD-Richtlinien zum Nachteil einiger Kantone. (Bild: Anthony Anex/Keystone)
Die Schaffhauser Finanzdirektorin Cornelia Stamm Hurter, (SVP) fürchtet um ihre Steuereinnahmen. (Bild: Walter Bieri/Keystone)
Ständerat Erich Ettlin. (Bild: Keystone)

Büsi-Diplomaten. Nebelspalter-Chefredaktor Markus Somm enervierte sich just vor einem Jahr in einer Kolumne über «kluge, aber unerfahrene Beamte, die öfter nicken, als dass sie etwas sagen – wenn sie nicht miauen». Unsere Diplomaten würden sich nicht wie Löwen gegen den Feind wehren. Büsis seien nach Paris geschickt worden.

In Paris hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ihren Sitz. Sie ist dabei, die Steuerwelt für Grosskonzerne umzubauen. Seit 2024 gilt ein Mindeststeuersatz von 15 Prozent für Firmen mit einem Umsatz ab 750 Millionen Euro. Zumindest auf dem Papier.

Die OECD hat 38 Mitgliedsstaaten - jeder hat eine Stimme, Entscheide werden im Konsens gefällt. Doch natürlich gibt es in diesem Gremium mehr und weniger einflussreiche Staaten. Die USA können mehr Druck machen als die Schweiz. Das zeigte sich bereits, als die OECD die Einführung der globalen Mindeststeuer beschlossen hatte.

Die Schweiz machte mit, weil sie nicht anders konnte. Die Stimmbevölkerung nahm einen neuen Verfassungsartikel mit 79 Prozent der Stimmen an. Die USA - obschon treibende Kraft hinter der Reform - will von einer Einführung im eigenen Land nichts wissen.

Am 15. Januar 2025 musste die Schweiz eine weitere bittere Pille schlucken. Die OECD stopfte - auf Druck der US-Regierung unter Joe Biden - ein Steuerschlupfloch. Aufgebracht hatte die Diskussion Singapur: Einer der schärfsten Konkurrenten der Schweiz im globalen Steuerwettbewerb. «Ausgerechnet!», rufen hiesige Steuerexperten aus.

Büsis statt Löwen: Der Bund habe schlecht verhandelt in Paris.

Das Staatssekretariat für internationale Finanzfragen (SIF) teilte dannzumal mit: «OECD publiziert Leitlinie zur Mindestbesteuerung – Schweiz erhält qualifizierenden Status». Man braucht ziemlich viel Wissen, um die Sprengkraft der Medienmitteilung zu verstehen. Und den grossen Ärger gewisser Kantone gegenüber dem SIF und Finanzministerin Karin Keller-Sutter.

Finanzminister Karin Keller-Sutter akzeptierte neue OECD-Richtlinien zum Nachteil einiger Kantone. (Bild: Anthony Anex/Keystone)

Die gute Nachricht war: Die OECD verleiht der Schweiz den Status Q. Sie attestiert, dass unser Land die Bestimmungen zur globalen Mindeststeuer einhält. Grosskonzerne in der Schweiz erhalten damit die Garantie, dass sie nicht von anderen Staaten zusätzlich besteuert werden können.

Die schlechte (und nicht ausformulierte) Nachricht war: Die Kantone müssen bestimmte Steuervorteile aufgeben. Und das rückwirkend auf den 30. November 2021.

Das Thema beschäftigt die Branche und die Kantone seit Langem. Nur reden tut man ungern darüber. Erst jetzt kommt es an die Öffentlichkeit, weil die Bundesparlamentarier von der alten Steuerwelt retten wollen, was noch zu retten ist.

Wie der Steuertrick funktioniert

Dazu muss man wissen: Die Mindestbesteuerung klingt in der Theorie einfach. Alle Konzerne bezahlen 15 Prozent Steuern. Erhebt ein Staat diese Mindeststeuer nicht, können andere Staaten profitieren und bis zu 15 Prozent eintreiben.

Die Praxis ist komplizierter. Entscheidend ist, auf welcher Basis die 15 Prozent Steuern erhoben werden. Die OECD lässt gewisse Vergünstigungen für Unternehmen zu. Sie können vom Gewinn abgezogen werden. Somit verschmälert sich die Bemessungsgrundlage - und die effektive Steuerbelastung der Unternehmen liegt tiefer als 15 Prozent.

Was vom Gewinn abgezogen werden kann - das entscheidet die OECD. Und diese Organisation hat im Januar 2025 die Kantone zurückgepfiffen. Gewisse steuerliche Vorteile, welche die Kantone den Unternehmen in sogenannten Rulings gewährt haben, sind verboten. Ansonsten hätte die Schweiz den Q-Status nicht erhalten.

Rulings sind geheime Vereinbarungen zwischen Kantonen und Firmen. Sie sollen Rechtssicherheit bieten in dieser komplizierten Steuerwelt.

Ein Instrument aus der alten Steuerwelt ist der Step up. Angewendet wurde der Step up von gewissen Kantonen, um neue Konzerne anzusiedeln. Das funktionierte typischerweise so: Ein US-Unternehmen gründet eine Tochtergesellschaft in der Schweiz und überträgt dieser Patente. Diese werden aufgewertet und dann über mehrere Jahre abgeschrieben. Dadurch sinkt die Steuerbelastung. So wird aus der Mindestbesteuerung von 15 Prozent schon mal 10 Prozent oder noch weniger.

Die Wochenzeitung «Schaffhauser AZ» hat im letzten Jahr das Beispiel des US-Auto-Zulieferers Aptiv publik gemacht. Der Konzern suchte Wege, um die Mindeststeuer zu umgehen - und zog von Dublin nach Schaffhausen. Dort gründete das Unternehmen 2023 zwei Tochtergesellschaften und brachte 950 Patente und 53 Marken ein. Der Konzern schrieb im Geschäftsbericht: «Der Schweizer Tochtergesellschaft des Unternehmens wurde eine zehnjährige Steuererleichterung gewährt, die im Jahr 2024 beginnt.» Und er verrät auch gleich, wie hoch das Schaffhauser Steuergeschenk ist: 330 Millionen Dollar. Das entspreche fast dreimal so viel wie die gesamten Unternehmenssteuern, die der Kanton 2023 eingenommen hat, schrieb die Wochenzeitung.

Schaffhausen hat sich vom Finanzausgleich-Empfänger zum Geberkanton gewandelt. Die Steuereinnahmen sprudeln. Der Kanton hat eine Milliarde Franken auf der hohen Kante. Verantwortlich dafür ist eine erfolgreiche Ansiedlungspolitik.

Doch mittlerweile sorgt man sich in der Munotstadt. Zumindest in jenen Kreisen, die verstehen, worauf der Geldsegen der letzten Jahre beruhte. Und was die neuen OECD-Regeln bedeuten. Nämlich, dass die Praxis, die Schaffhausen bei Aptiv angewandt hat, nicht mehr erlaubt ist. Dass Unternehmen mit Versprechen von Steuergeschenken in die Schweiz gelockt wurden, die nicht mehr eingehalten werden können. Schaffhausen ist kein Einzelfall. Auch Luzern oder die Waadt sind in der Branche bekannt für ihre aggressive Steuerpolitik.

Das Steuergeschenk von 294 Millionen

Die Schweizer Verhandler haben in Paris eine Übergangsfrist für die Jahre 2024 und 2025 ausgehandelt. Die Unternehmen können noch Stille Reserven aufdecken, aber in einem geringeren Umfang als von den Kantonen versprochen. Und ab nächstem Jahr ist fertig mit dieser Praxis.

Wie das Steuerprivileg an Wert verliert, zeigt sich bei Aptiv. Ein Blick in den Abschluss des ersten Quartals 2025 zeigt: Der US-Konzern bewertete das Schweizer Steuergeschenk mit 294 Dollar in der Bilanz. Wegen der neuen OECD-Regeln wurde es wertlos, weil die Mindeststeuer von 15 Prozent greift. Die Folge: Aptiv musste den Betrag abschreiben, der Steueraufwand explodierte im ersten Quartal gegenüber dem Vorjahr von 76 auf 356 Millionen Dollar.

Die grosse Frage ist: Bleiben die vorwiegend amerikanischen Konzerne in der Schweiz, auch wenn sie ihre Steuervorteile verlieren? Die Schaffhauser Finanzdirektorin Cornelia Stamm Hurter äussert sich nicht zu einzelnen Unternehmen. Sie hält nur grundsätzlich fest, dass die Schweiz aufgrund der OECD-Richtlinien an Standortattraktivität eingebüsst habe.

Die Schaffhauser Finanzdirektorin Cornelia Stamm Hurter, (SVP) fürchtet um ihre Steuereinnahmen. (Bild: Walter Bieri/Keystone)

«Die Steuereinnahmen der juristischen Personen werden sich nicht mehr in dem Masse entwickeln wie in den Vorjahren.» Sie kritisiert die OECD. Es gehe nicht mehr darum, den internationalen Steuerwettbewerb fairer zu machen: «Vieles deutet darauf hin, dass die Agenda der OECD zunehmend darauf ausgerichtet ist, bedeutende Volkswirtschaften zu Lasten kleinerer Staaten aufzuwerten. Die laufenden Diskussionen verdeutlichen zudem eine zunehmende Verschiebung hin zu einer rein politisch getriebenen Debatte.»

«Zeit, dass das Parlament aufmuckt»

Die Nervosität der Kantone, die um ihre besten Steuerzahler fürchten, hat mittlerweile auch Bundesbern erfasst. Die Wirtschaftskommissionen von National- und Ständerat fordern den Bundesrat in einer Motion auf, dass die neuen OECD-Regeln erst für «steuerliche Vorteile» gelten sollen, die ab dem 1. Januar 2025 gewährt worden sind. Mitte-Ständerat Erich Ettlin stört sich an zwei Dingen. An der Rückwirkung, die verfassungsrechtlich problematisch sei, sowie an der automatischen Übernahme der OECD-Regeln. Die neue OECD-Richtlinie sei einzig und allein gegen die Schweiz gerichtet: «Es ist Zeit, dass das Parlament aufmuckt», sagt Ettlin.

Ständerat Erich Ettlin. (Bild: Keystone)

Stimmen National- und Ständerat in dieser Wintersession zu, müsste der Bundesrat eine 180-Grad-Wende vollziehen. Er verfolgt bis anhin das Ziel, dass die Schweiz die Mindestbesteuerung umsetzt und das hiesige Steuerregime international akzeptiert ist. Die Wirtschaftspolitiker wollen nun aber, dass sich der Bundesrat über die neuen OECD-Regeln hinwegsetzt - und damit auch den Q-Status riskiert. Sprich, andere Staaten könnten Schweizer Konzerne zusätzlich besteuern. Daran haben Roche, Nestlé und Co. kein Interesse. Entsprechend warnt der Regierungsrat des Pharma-Kanton Basel-Stadt, «die Motion hätte derzeit nicht absehbare negative Konsequenzen». Und auch Swisssholdings, der Verband der grossen multinationalen Konzerne, lehnt die Motion ab.

Dabei warnte der Verband im letzten Jahr noch ausdrücklich vor den neuen OECD-Regeln. Damals lag zwar erst der Entwurf vor. Doch Swissholdings sprach in einer E-Mail an Bundesrätin Karin Keller-Sutter von einer tiefgreifenden Verletzung des Schweizer Verfassungsrechts und nannte explizit das Rückwirkungsverbot. Und schrieb von «signifikanten finanziellen und volkswirtschaftlichen Folgen» für die Kantone und den Bund.

Angesprochen auf den Widerspruch schreibt Swissholdings, dass sich die Situation seither verändert habe. Der Q-Status habe immer höchste Priorität gehabt, dieser wurde erreicht.

Während sich die Schaffhauser Finanzdirektorin Stamm Hurter nicht zur Motion äussern will, macht die Luzerner Regierung ihre Zustimmung deutlich. Auch sie verweist auf das Rückwirkungsverbot.

Nun lockt Trump mit Steuergeschenken

Wie viele Unternehmen seit November 2021 noch in den Genuss von Steuervorteilen gekommen sind, welche nun verboten sind - diese Zahl kennt niemand. Die einzigen, die Bescheid wissen, sind die Kantone. Und diese berufen sich auf das Steuergeheimnis.

Zumindest in Bezug auf Aptiv ist die Nervosität verständlich. Im letzten Quartalsbericht verweist der Milliardenkonzern auf den «One Big Beautiful Bill Act» von US-Präsident Donald Trump, erlassen am 4. Juli. Trump will mit neuen Steuererleichterungen US-Konzerne zurückholen. Aptiv ist ein hochmobiler Konzern - und beobachtet die Situation in den USA genau.

Umstritten ist, ob die Kantone wissentlich Steuerschlupflöcher geschaffen haben - oder ob die ursprünglichen OECD-Regeln zu unpräzise waren und die Kantone in gutem Treu und Glauben gehandelt haben. Ettlin glaubt an letzteres. Die OECD habe der Schweiz eine Übergangsphase von zwei Jahren zugestanden. Wäre der Fall klar gewesen, hätte es diese nicht gebraucht.

Die andern sagen: Die Kantone wussten haargenau, dass sie riskante Ansiedlungsstrategien hatten - und mit ihren Steuertricks auch noch hausierten. Die Übergansphase sei einzig der Beweis dafür, dass der Bund gut verhandelt und das Beste für die Kantone herausgeholt hat.

Eben doch Löwen – und nicht Büsis.

Artikel: http://www.vaterland.li/regional/schweiz/kantone-lockten-us-konzerne-mit-steuergeschenken-an-und-koennen-ihre-versprechen-nicht-mehr-einhalten-art-691164

Copyright © 2025 by Vaduzer Medienhaus
Wiederverwertung nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung.

­
­