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Carla Maurer: C’est le ton qui fait la musique

Tagblatt-Kolumnistin Carla Maurer geht in ihrem Gedankenstrich der Frage auf den Grund, wie weit Du-Kultur reichen kann – und ab wann sie Grenzen überschreitet.
Carla Maurer, St.Galler Pfarrerin in der reformierten Kirchgemeinde Sihltal und Tagblatt-Kolumnistin. (Bild: Samuel Schalch)

An der Kasse in der Badi Adliswil arbeitet ein Bündner. Wir wissen alle, was das bedeutet: Die Stimmung ist automatisch gut. Freundlichkeit und Lockerheit scheint dem Bergvolk in die Wiege gelegt. Die alpinen Täler mit ihren mäandrierenden Flusslandschaften und tiefblauen Seen, die Berggipfel mit den königlichen Steinböcken sind Sehnsuchtsort von Otto und Anna Flachland. Mal ehrlich: heimlich wollen wir alle Bündner sein. Ich glaube das wissen die Bündner und sind aus Mitleid so freundlich mit uns.

Neulich war ich wieder auf einen Schwumm im Hallenbad. An der Kasse löste eine ältere Dame ein Billet. «Du kannst einen Einzeleintritt für 7 Franken lösen, oder ein Abo mit Vergünstigung», sagte der freundliche Bündner. «Ich wusste nicht, dass wir befreundet sind», kam die gut schweizerische passiv-aggressive Antwort. «Saumode, dass man heutzutage überall geduzt wird.» Der Mann an der Kasse entschuldigte sich tausendmal und wechselte sogleich auf Sie. (Die angebrachte Entschuldigung in Gegenrichtung blieb aus.)

Inhaltlich verstehe ich das Anliegen der Frau. Wer bei der Du-Kultur nicht mitmachen will, gilt gerne als distanziert und unentspannt, Frauen schnell mal als Zicken. Wobei gerade Frauen dem Sie gegenüber grundsätzlich offener eingestellt sind, wie eine kleine Umfrage in meinem Bekanntenkreis ergeben hat. Das ist nicht überraschend. Frauen lernen früh, Distanz zu wahren, um in ihrer Rolle und ihrem Sein respektiert zu werden. Siezen ist dabei ein einfaches Mittel, die Grenzen abzustecken. Auch mir war schon eher nach Siezen, wenn es etwas gar kumpelhaft, unverschämt oder nah zu und her ging.

Nebst der Gender- spielt auch die Hierarchiefrage eine Rolle. Nicht alle wollen die Pfarrerin, die Lehrerin, den Chef duzen. Und umgekehrt brauchen wir in unseren Berufsrollen eine gesunde professionelle Distanz, um unseren Auftrag gut zu erfüllen. Das kann dutzend gut gelingen. Das Du ist jedoch eine Kunst, die nicht alle beherrschen.

Man könnte meinen, als halbe Engländerin sei ich dem Du verschrieben. Mit dem englischen You kann man das deutsche Du aber gar nicht vergleichen. Das You deckt vom kumpelhaften Umgang bis zur Begegnung mit dem König alles ab. Ob You oder You, die Engländer sind zurückhaltend und verfehlen sich selten im Ton. Das musste ich als Schweizerin in meinen Londoner Anfangsjahren hart erlernen. Vielleicht gerade deshalb können sich Engländer ihren typischen Schalk und Charme erlauben, der seltener ins Übergriffige kippt. Man bemüht sich darum, den anderen Raum zu geben.

Kürzlich war ich an einer obligatorischen Einführungsveranstaltung der Kantonalkirche Zürich. Die Referentin hat konsequent gesiezt und die selbstverständliche Du-Kultur in den Kirchgemeinden thematisiert. Das Thema der Tagung: «Grenzverletzungen». Ich war erleichtert. Meine Einschätzung ist also gar nicht so altbacken wie befürchtet. Sie und Du hat mit Grenzen zu tun, und wo Grenzen sind, besteht auch immer das Risiko, diese (willentlich oder unwillentlich) zu überschreiten. Viele Kollegen schauten irritiert bis konsterniert. Die Kolleginnen schienen insgeheim erleichtert.

Wir können uns siezen. Wir können uns duzen. You can say You to me. Wir können auch nach Tagesform und Kontext variieren. C’est le ton qui fait la musique.

 
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