Schweizer Annäherung an Russland
Der schmucklose graue Betonkasten überragt sein Umfeld bei Weitem. Die Häuser, die Wälder und auch die Hügel am gegenüber liegenden Ufer der Wolga verschwinden fast neben dem Lada-Resort. Und doch döst das Hotel der Schweizer Nationalmannschaft irgendwie unscheinbar vor sich hin. Die schmale Asphaltstrasse, welche die Anlage mit der Hauptstrasse verbindet, ist nicht ausgeschildert. Zwei Polizisten stehen vor ihrem Dienstwagen und stellen sicher, dass Unbefugte das Resort nicht betreten. Keine Genehmigung, kein Zutritt. Näher als 300 Meter kommt keiner ans Lada-Resort heran.
Willkommen in Russland. Doch wer nun die Klischees von russischen Agenten-Filmen bemühen will, liegt falsch. Russland ist nicht anders als Brasilien oder Frankreich. Das Mannschaftshotel der Schweizer wird in Togliatti von eher weniger Personal bewacht als jenes vor vier Jahren im quirligen Porto Seguro an der brasilianischen Atlantikküste. Gar nicht zu sprechen vom regelrechten Checkpoint, der das Schweizer Quartier vor zwei Jahren in Montpellier von der Aussenwelt abgeschirmt hat.
Nähe gewährt die Schweizer Delegation am Abend beim öffentlichen Training im Torpedo-Stadion. 1500 Tickets werden verteilt. Alle fanden einen Abnehmer, die Haupttribüne ist voll. Die Zuschauer applaudieren beim gelungenen Zusammenspiel zwischen Blerim Dzemaili und Steven Zuber, und freuen sich über das Tor von Mario Gavranovic im Trainingsspiel. Die Kinder kreischen, als Xherdan Shaqiri auf ihre T-Shirts unterschreibt, und das Team Bälle ans Publikum verteilt.
Vielleicht hat das Training am Dienstag Gäste und Gastgeber näher gebracht. Denn zumindest bis dahin hatte sich Togliatti nicht in eine Schweizer Exklave verwandelt, wie das vor zwölf Jahren in Bad Bertrich der Fall gewesen war, in diesem Rentner-Kurort in der Eifel. Im Zentrum der Stadt, entlang der Ulitsa Mira, der Strasse des Friedens, welche die Einheimischen mit einem Lächeln die "Champs-Elysées von Togliatti" nennen, wehen keine Schweizer Fahnen.
Knapp 700'000 Einwohner hat Togliatti, und wer nicht beim Schweizer Training war, verbrachte diesen Dienstag ausserhalb der Stadt zum Beispiel in seiner Datscha, dem Ferienhaus auf dem Land. Es ist der 12. Juni, der Nationalfeiertag, der von Boris Jelzin, dem ersten russischen Staatspräsidenten nach dem Ende der Sowjetunion, Anfang der Neunzigerjahre zum Tag der Unabhängigkeit erklärt wurde. In den Gärten ihrer Datschas oder an den Stränden der Wolga grillieren sie Schaschlik und lassen es sich gut gehen.
Das dürfen sie durchaus. Die Arbeitslosigkeit ist tiefer als in den meisten andern Städten Russlands und das monatliche Durchschnittseinkommen von rund 800 Franken zumindest für russische Verhältnisse gar nicht mal so tief. Da lässt es sich durchaus respektabel leben, finden sie. Auch wenn die Stadt tatsächlich nicht schön ist und vor allem keine touristische Infrastruktur bietet. Wenige Geschäfte, wenige Restaurants. Auch Togliattis Champs-Elysées lädt kaum zum Flanieren ein.
Der Stolz der jungen Stadt, die erst in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts gebaut wurde, sind die Lada-Werke in Awtosawodski, der so genannten Neuen Stadt und dem grössten der drei Stadtteile, welche zusammen Togliatti ausmachen. Noch immer sind die Lada-Werke für den Pulsschlag des wirtschaftlichen Lebens in der Stadt verantwortlich, auch wenn die Zahl der Beschäftigten in den letzten 30 Jahren von 100'000 auf 35'000 zurückgegangen ist. Zu Sowjetzeiten erreichte Lada Spitzenwerte von einem produzierten Auto alle 22 Sekunden. Heute ist die Produktion auf einen Drittel geschrumpft, dafür gehen vom 1,5 km langen Fliessband nicht nur Ladas sondern auch Renaults, Nissans und Chevrolets ab.
Die Produktion von Automarken aus Frankreich, Japan und den USA ist so etwas wie ein internationaler Farbtupfer in dieser Region. Ausländer verirren sich nur selten nach Togliatti. Es sei denn, sie kommen hierher, um sich auf ihre WM-Einsätze vorzubereiten. Und dann kommt ihnen die unaufgeregte Art der Menschen hier womöglich sogar gelegen. (sda)
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