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Femizide ohne Vorwarnung: Fachleute diskutieren in der TVO-Runde, wie Frauen sich schützen können

In der Ostschweiz häufen sich Fälle häuslicher Gewalt und Femizide. Im TVO-Talk «Zur Sache» beleuchten Expertinnen und ein Experte Hintergründe und Präventionsmöglichkeiten.
Von links: Manuel Niederhäuser, Margot Vogelsanger, Moderator Stefan Schmid und Nora Markwalder. (Bild: Carina Majer)

Ende August wurde in Rorschach die Leiche einer 42-jährigen Nigerianerin aus dem Bodensee geborgen. Kurze Zeit darauf wurde ihr Ehemann verhaftet. Er soll sie getötet haben. Allein in diesem Jahr gab es in der Schweiz über 20 Fälle mutmasslicher Femizide – ein Höchstwert. Insgesamt zeichnet sich ein trauriger Trend ab: Die Fälle häuslicher Gewalt haben zugenommen.

Im TVO-Talk «Zur Sache» diskutierten am Dienstagabend Margot Vogelsanger, Leiterin der Opferhilfe St.Gallen und beider Appenzell, Kriminologin Nora Markwalder sowie Manuel Niederhäuser, Leiter Bedrohungs- und Risikomanagement der Kantonspolizei St.Gallen über Femizide und Gewalt in Beziehungen. Moderator ist Stefan Schmid, der Chefredaktor des St.Galler Tagblatts.

Vier Polizeieinsätze pro Tag

Wie definieren sich Femizide überhaupt? «Ein Femizid ist die Tötung einer weiblichen Person aufgrund ihres Geschlechts.» Damit liefert Markwalder, die zu diesem Thema forscht, eine von mehreren möglichen Erklärungen. Andere verständen im Wort Femizid die Tötung in der Partnerschaft, wieder andere definierten den Begriff breiter und sehen auch getötete Prostituierte oder Mädchen inkludiert.

Entsprechend lässt sich die genaue Zahl der Fälle nicht eindeutig bestimmen. «Es kann gut sein, dass sie noch höher liegt», sagt Markwalder.

Polizist Niederhäuser zeigt sich besorgt: In den meisten registrierten Femizidfällen habe es zuvor keine polizeiliche Vorgeschichte gegeben. «Wenn die Behörden involviert sind, ist die Chance gross, dass wir Schlimmeres verhindern können», sagt er. Rund 1600 Mal rückt die Kantonspolizei St.Gallen pro Jahr wegen häuslicher Konflikte aus – nicht immer wegen körperlicher Gewalt, manchmal auch bei Streitigkeiten. Heruntergebrochen bedeutet das: vier Einsätze pro Tag.

Doch mit dem Einsatz vor Ort ist die Polizeiarbeit noch nicht getan. Danach gehe es darum, weitere Eskalationen zu verhindern und Risikofaktoren zu erkennen: Spielen Alkohol oder Drogen eine Rolle? Gibt es Waffen im Haushalt oder eine belastende Trennungssituation? Von den rund 1600 Einsätzen pro Jahr schaut die Polizei in etwa 120 Fällen genauer hin. «Wir nehmen Kontakt mit der gewaltausübenden Person auf, schildern unsere Bedenken und versuchen zu deeskalieren. Zudem vermitteln wir an Beratungsstellen weiter», sagt Niederhäuser.

Mehr Betroffene melden sich, aber noch nicht genug

Die Zahl der Gewalttaten gegen Frauen ist gestiegen. So scheint es zumindest. Margot Vogelsanger kann das aus der Alltagserfahrung bestätigen. «Es finden mehr Frauen den Weg zu uns in die Opferhilfe.» Das könne allerdings auch daran liegen, dass die Hemmschwelle heute tiefer liegt. «Frauen fällt es leichter, ihre anfängliche Scham zu überwinden», sagt Vogelsanger. Die Dunkelziffer bleibt dennoch hoch, ist sie sich sicher.

Manuel Niederhäuser bestätigt die Einschätzung von Vogelsanger: Noch immer gebe es viele Fälle, in denen sich spätere Opfer von Femiziden nie an eine Hilfsorganisation gewandt haben – obwohl sich im Nachhinein zeigt, dass Gewalt bereits lange ein stiller Begleiter der Beziehung war. Niederhäuser erinnert sich an einen besonders tragischen Fall: Ein Thurgauer hatte im Frühjahr 2022 in Hamburg eine 22-jährige Frau getötet. Zuvor hatte er sie über Monate gestalkt. «Die junge Frau hat sich nie irgendwo gemeldet», sagt Niederhäuser.

Leisten die Behörden genug Präventionsarbeit? Diese Frage stellt Moderator Schmid in die Runde. Er verweist dabei auf die Istanbul-Konvention, die 2018 in der Schweiz in Kraft getreten ist und das Land verpflichtet, Gewalt gegen Frauen zu verhindern und zu bekämpfen.

Markwalder weiss keine Antwort. Die Kantone handelten zu unterschiedlich, als dass sie das bewerten könne. Sie warnt jedoch davor, auf das Strafrecht zu verweisen. «Dann ist die Gewalt schon passiert, dann ist es zu spät.» Sie plädiert für Gewaltprävention.

Anstieg, aber kein neuer Trend

Prävention statt Eskalation, aber die Frauenhäuser sind überfüllt. Wohin sollen sich Betroffene also wenden? Nach wie vor an die Opferhilfe! «Es ist so, uns steht das Wasser bis zum Hals», sagt Vogelsanger. Umso mehr freue sie sich über die neue dreistellige Notfallnummer des Bundes, die ab nächstem Monat gewaltbetroffenen Personen eine erste Anlaufstelle bietet. Gleichzeitig wünscht sie sich mehr Sensibilisierung – etwa bei Fachpersonen in Schulen und Spitälern.

Dass die Zahl in diesem Jahr höher ausfällt als in der Vergangenheit, lasse laut Markwalder noch keinen klaren Anstieg erkennen. In der Schweiz gebe es insgesamt verhältnismässig wenige Tötungsdelikte und weil die Gesamtzahl so tief sei, wiege der Anteil der getöteten Frauen schwerer.

Jede getötete Frau ist eine zu viel. Da die Tötungen laut Niederhäuser in den meisten Fällen überraschend kämen, sei ein vorbeugendes Eingreifen jedoch schwierig. «Deshalb möchte ich die Betroffenen ermutigen, sich an die entsprechenden Stellen zu wenden», schliesst Niederhäuser die Runde.

 
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