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Zukunftswährung Utopie

«Das nicht staatliche Bottom-up-System spart Kosten und hat grossen Zulauf.»
Klaus Tschütscher
Klaus Tschütscher, ehemaliger Liechtensteiner Regierungschef. Heute Verwaltungsrat, unter anderem bei der Swiss Life Holding AG und der DMG Mori Europe Holding AG.

In Zeiten der Transformation kann heute Unvorstellbares fester Teil von morgen werden. Ein Beispiel ist die Aufhebung des bisherigen, lukrativen Monopols der Banken beim Zugriff auf Kontodaten. «EU öffnet Bankkonti mit Brechstange», titelte eine Zürcher Sonntagszeitung vor Kurzem ungläubig. Gemeint ist damit die sogenannte Payment-Services-2-Richtlinie (kurz PSD2). Diese verpflichtet die Banken, ab Januar 2018 Drittanbietern kostenlos eine standardisierte und sichere IT-Schnittstelle zu Konten zur Verfügung zu stellen. Mit Drittanbietern sind vor allem Fintechs gemeint. 
Die mit dem Paradigmenwechsel verbundenen Umsatzverluste für bisherige Banken werden auf bis zu 40 Prozent geschätzt. Als erste Schweizer Bank hat die Hypothekarbank Lenzburg im Kanton Aargau Anfang Mai freiwillig ihr Kernbankensystem mit einer offenen Programmierschnittstelle ergänzt und damit 
den Damm bereits gebrochen.

Utopien werden Realität

Der beschriebene Schnittstellenzugang für Dritte ist ein Beispiel für Utopien, die plötzlich Realität werden. Weitere Unvorstellbarkeiten sind ante portas. Dazu zählt das bedingungslose Grundeinkommen. Die Idee ist zwar von Ökonomen bisher immer wieder nach allen Regeln der Zunft zerpflückt worden. Und trotzdem taucht sie mit schöner Regelmässigkeit auch in Europa immer wieder auf. Die Schweiz hat darüber sogar eine Volksabstimmung durchgeführt. Neue Ideen indes können nicht mehr zu Tode debattiert werden, wenn sie bereits leben. In den USA setzen Indianerstämme eine mögliche Form des bedingungslosen Grundeinkommens nämlich schon länger um. Finanziert wird es aus den Milliardeneinnahmen der Spiel-Casinos auf ihrem Stammesgebiet. Die monatlichen Schecks belaufen sich dabei inzwischen auf bis zu 10 000 Dollar für jeden erwachsenen Ureinwohner, garantiert bis ans Lebensende.

Genossenschaftlich altern

Vor dem Lebensende steht das Alter. Eine weitere Noch-Utopie in Europa ist die vierte Säule der Altersvorsorge. Was ist damit gemeint? Allenthalben ist ein aufkommender Pflege-Notstand für die ältere Generation festzustellen. Die laufende Zunahme des Altersdurchschnitts wird früher oder später auch die staatlichen Rentensysteme zum Kippen bringen. Bisher konnten billige Pflegekräfte aus Osteuropa den Pflege-Kollaps im Westen verhindern. Eine Lösung für das Problem sind sie indes nicht. Das genossenschaftlich organisierte System aus Nachbarschaftshilfe mit Zeitgutschriften dagegen könnte eine sein. Das sogenannte KISS-System (Keep it Small and Simple) baut sich derzeit in einzelnen Schweizer Kantonen, darunter der Stadt St. Gallen, auf. Rüstige Menschen ab 60 begleiten und betreuen dabei Ältere freiwillig in allen nicht ärztlich verordneten Pflegeleistungen wie Einkaufen, Vorlesen, Frühstück zubereiten oder Haare waschen. Die Helfer ihrerseits können sich die geleistete Zeit gutschreiben und dann vom KISS-System ihrerseits einfordern, wenn sie selber einmal unterstützungsbedürftig sind. Das nicht staatliche Bottom-up-System spart Kosten und hat grossen Zulauf. Es wird aber von Politikern und der Gesundheitsindustrie bisher mit Argwohn und Misstrauen beobachtet.

Utopien als Korrektiv

Was aber ist die Realität hinter all diesen scheinbaren Utopien? Das Beispiel der Bankkunden-Beziehung zeigt, dass die Digitalisierung vor allem dann Utopien möglich macht und echte Evolutionen auslöst, wenn entscheidende Schnittstellen aufgebrochen werden. Utopien für morgen zeigen aber nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch die Defizite von heute auf und signalisieren den Achtsamen das heraufziehende zwingende Korrektiv. Ein Beispiel dafür ist die Wechselwirkung zwischen psychotischen Managergehältern und der Idee eines Grundeinkommens. Solange Manager in Europa Millionengehälter als Grundrecht betrachten, wird die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens nicht verschwinden. Utopien  können auch die überraschend einfache Lösung eines Problems sein. Ein Beispiel ist die vierte Säule aus genossenschaftlichen Zeitgutschriften. Aus all dem ist zu schliessen: Wer Utopien von heute nur belächelt, verspielt die wichtigste Währung für eine bessere und verantwortungsvolle Zukunft.

 

 
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