«Ich trinke auch an Silvester keinen Alkohol»
«D'Jugend vo höt», dies ist ein oft gehörter Satz in Liechtenstein, den vor allem ältere Menschen verwenden. Sie wollen damit ausdrücken, dass sich Kinder und Jugendliche immer negativer entwickeln, also keine Ideale mehr pflegen und kaum noch Anstand oder Respekt kennen. Das Ausschankverbot für harten Alkohol am Staatsfeiertag zeigt, dass dieser Vorwurf irgendwie berechtigt ist. Dieses drastische Mittel ist die Antwort auf die Tatsache, dass Jugendliche immer früher beginnen, Alkohol zu trinken, und sich nicht belehren lassen. Für manche ist es der Reiz, etwas Verbotenes zu tun, andere werden von der Neugierde gepackt und wollen diese Dinge einfach ausprobieren und was sicher auch ein Grund für diese Fehlverhalten ist: Viele wollen «cool» sein und fühlen sich ausgeschlossen, wenn sie solche Handlungen unterlassen würden.
Hart und ethisch korrekt
Ganz anders und trotzdem mindestens genauso «hart» sind die Straight Edge. Straight Edge (vielfach abgekürzt als SE, SxE oder sXe) bezeichnet eine Gegenströmung aus dem Bereich der Hardcore-Szene. Die vielfach grosszügig tätowierten Straight Edge lehnen den selbstzerstörerischen Drogenkonsum, für den die Punk- und HardcoreSzene unter anderem bekannt ist, vehement ab. Der Gedanke dieser Philosophie ist der Verzicht auf Alkohol, Tabak, jegliche Drogen und Promiskuität. Einige verzichten auch auf den Konsum von Coffein und erweitern Straight Edge um den Vegetarismus oder Veganismus.
Der Begriff Straight Edge heisst übersetzt etwa «nüchtern, geradlinig, rein». Er soll die Kompromisslosigkeit darstellen, die Bestimmtheit oder Absolutheit, mit der die Anhänger ihre Prinzipien vertreten.
Das Symbol «X»
Straight Edge entstand in den 1980er- Jahren, in denen der schnelle, aggressive Hardcore-Punk entwickelt wurde. Viele Punk-Fans und sogar Bands selbst waren zu dieser Zeit mit Problemen konfrontiert, die aus ihrem jugendlichen Alter resultierten: Zum einen wurden sie von den älteren Punks nicht ernst genommen, zum anderen konnten sie viele Konzerte nicht besuchen, da die Clubs und Bars aufgrund von Alkoholausschank- und Jugendschutzbestimmungen keine Minderjährigen einliessen.
Diese Probleme stellten sich auch einer jungen Washingtoner Band namens The Teen Idles. Irgendwann aber hatten sie diese Schikanen satt und probierten eine Alternative: Die Türsteher malten Minderjährigen als Zeichen für den Barkeeper, diesen Personen keinen Alkohol auszuschenken, ein grosses «X» auf den Handrücken. Das «X» entwickelte sich zunächst zu einem Identifikationssymbol junger Punks und hatte noch keine weitere Bedeutung. Durch das Cover einer 1980 erschienenen CD der Band The Teen Idles mit zwei Fäusten und daraufgemaltem «X» erhob sich dieser Buchstabe dann zum populären Symbol für Straight Edge.
Nach der Auflösung der Teen Idles gründete sich die Band Minor Threat, bei denen Ian MacKaye, der vorher Bassist war und die Songtexte schrieb, nicht mehr nur die Texte schrieb, sondern sie auch sang. Seine Texte nahmen in kürzester Zeit einen viel grösseren Einfluss auf die Hardcore-Szene, als MacKayne sich ausgemalt hatte. Der Song «Out of Step» mit Aussagen wie «(I) Don't smoke, (I) Don't Drink, (I) Don't Fuck, At least I can fucking think» wurde quasi zur Hymne der Straight Edge und spiegelte ihre Prinzipien wider.
Straight Edge in Liechtenstein
Die Szene ist in Liechtenstein kaum verbreitet. Die meisten haben noch nicht einmal davon gehört. Doch vereinzelt gibt es auch hier Leute, die nach dieser Philosophie leben. Der 25-jährige Remo Rohrer aus Triesenberg ist einer dieser wenigen. Seit nun schon siebeneinhalb Jahren richtet er seine Lebensweise nach den Straight-Edge-Prinzipien. Allerdings hat er früher Fleisch gegessen, hin und wieder Alkohol getrunken und sogar geraucht. Trotzdem fällt ihm der Verzicht auf diese Dinge nicht schwer: «Ich habe schon aufgehört zu trinken und zu rauchen, bevor ich Straight Edge wurde. Ich habe irgendwann zwischen 16 und 17 angefangen, meine Lebensweise etwas zu hinterfragen und fand sie für mich persönlich nicht angebracht. Deshalb hörte ich mit dem Konsum von Alkohol und Zigaretten auf.»
Remo Rohrer änderte sein Verhalten nicht von heute auf morgen. Er vermutet, dass es daran liegt, dass ihm seine jetzige Lebensweise nicht schwerfällt. «Als ich begann, mein Konsumverhalten zu verändern, war mir vor allem anfangs gar nicht bewusst, dass es eine Szene gab, die meine Einstellungen widerspiegelt. Erst mit der Zeit stiess ich auf den Begriff Straight Edge und vertrat dies dann auch – zunächst mit T-Shirts, dann mit den aufgemalten «X» auf den Handrücken, auf Konzerten und schliesslich auch mit einigen Tattoos», erzählt der junge Zimmermann.
Von tolerant bis hin zu militant
Da Remo Rohrer lange auch selbst einige Freunde und Bekannte hatte, die «so richtig» in dieser Szene waren, weiss er, wie sich deren unterschiedliche Mitglieder verhalten: «Es gibt viele verschiedene Straight Edge. Allen gemeinsam ist der Verzicht auf Alkohol, Nikotin und Drogen. Der Rest ist meist individuelle Ausgestaltungssache; so verzichten viele darunter auf One-Night-Stands oder sind Vegetarier bzw. Veganer. Ich persönlich bin Veganer.»
Neben der unterschiedlichen Auslegung der Straight-Edge-Prinzipien haben die Leute auch unterschiedliche Meinungen, wie sie diese Lebensphilosophie vertreten. «Viele machen das nur für sich und zeigen das auch nicht unbedingt nach aussen hin. Aber es gibt auch andere, die auf Konfrontation aus sind, um Leute, die nicht so leben, zu verurteilen und zu belehren», sagt Remo Rohrer. Er selbst lebt zwar noch nach diesen Prinzipien, ist aber nicht mehr «in der Szene» und trifft sich mit anderen Straight Edge. «Mit der Zeit wurden es immer mehr Leute, die aber eher Mitläufer waren und nur dabei sein wollten. Es wurde mir zu bunt, dass solche Leute kritiklos akzeptiert wurden, nur, damit die Gruppe grösser ist», sagt er.
Männlichkeit infrage gestellt
Die Reaktionen der Menschen auf diese Lebensweise sind sehr unterschiedlich. Viele haben grossen Respekt vor der Disziplin, einige finden es einfach nur interessant. Neben diesen positiven Eindrücken gibt es aber auch solche Leute, die das Ganze ein wenig belächeln oder sogar verspotten: «Ich arbeite auf dem Bau, da geht es eh ein wenig derb zu und her und natürlich ist diese Arbeitsbranche männerdominiert. Wenn ich in der Pause nicht das allseits beliebte «Fleischkäsbrötle» esse oder nach der Arbeit kein «Fierobetbier» trinke, ernte ich schon die eine oder andere spöttische Bemerkung. Meist muss ich mir Vorwürfe anhören, dass ich mit dieser Ernährung kein richtiger Mann sei», erzählt er. Belasten würden ihn solche Aussagen überhaupt nicht, denn die Männer, die das behaupten, hätten meist selbst nicht unbedingt ein Erscheinungsbild, das unter das allgemeine Verständnis von Attraktivität fällt, meint der Veganer schmunzelnd.
Auf die Frage, ob er sich manchmal für seine Lebenseinstellung schäme, antwortet er ganz klar mit einem Nein. «Natürlich gibt es viele Menschen, die das komisch finden und Schwierigkeiten haben, es zu akzeptieren. Trotzdem bin ich zufrieden mit meinem Lebensstil und bin stolz darauf – es ist mir nicht peinlich -, vor allem wenn ich Leute sehe, die sich in Alkohol- oder Drogenräuschen verlieren und ihr Leben einfach nicht im Griff haben.»
Stark trotz Verführung im Alltag
Obwohl er immer wieder verführt wird, bleibt er konsequent und wird seinen Lebensstil auch weiterhin beibehalten. «Manchmal ist es schon ein wenig lästig, wenn man sich rechtfertigen muss für seine Einstellung. Ich lehne beispielsweise auch an Silvestern oder Familienfeiern Sekt ab. Da stosse ich dann meist auf recht grosses Unverständnis», erzählt er.
Die Straight-Edge-Lebensweise ist wirklich knallhart und braucht viel Disziplin und Durchhaltevermögen. Das fällt den meisten Menschen sicher schwer – zu schwer, als dass sie selbst ihr Verhalten danach richten könnten. Allerdings ist der Grundgedanke, ethische Ideale zu vertreten, das Leben bewusster zu führen und auf seine Gesundheit zu achten sehr lobenswert und würde von vielen Leuten mehr Beachtung verdienen. (rba)