Hellsehen bleibt schwierig
VON PATRICK STAHL
Vaduz/Zürich. – Die steigende Staatsverschuldung und die Eurokrise haben den Finanzmarktanalysten aus Liechtenstein und der Ostschweiz einen Strich durch die Rechnung gemacht. Zu Beginn dieses Jahres hatten alle neun befragten Experten in einer Umfrage von «Wirtschaft regional» damit gerechnet, dass die Börsenkurse im ersten Halbjahr 2010 weiter nach oben steigen werden, getrieben von der Hoffnung auf den Aufschwung und den nach wie vor tiefen Zinsen.
Experten lagen daneben
Die Experten haben sich getäuscht: Ihre Prognosen liegen zum Teil rund 10 Prozent höher als der tatsächliche Stand des Swiss Market Index. Der SMI sank in den ersten sechs Monaten um mehr als 6 Prozent auf 6170 Punkte. Aufgeschreckt durch die europäische Schuldenkrise und die Furcht vor einer neuen Rezession haben sich die Anleger seit April verstärkt aus Aktien zurückgezogen, nachdem sie zunächst noch einen weiteren Gewinnlauf an den Finanzmärkten wie im vergangenen Jahr erhofft hatten.
Die Experten gehen in der aktuellen halbjährlichen Umfrage von «Wirtschaft regional» davon aus, dass die Börsen die Talsohle mittlerweile durchschritten haben und im Laufe des Herbsts auf den Wachstumspfad vor der Finanzkrise zurückfinden werden. «Die Schweizer Aktien dürften den temporären Tiefpunkt erreicht haben», sagt Manfred Hofer, Analyst von LGT Capital Management.
Trotzdem haben die befragten Finanzmarktanalysten ihre Prognosen für das Börsenjahr 2010 gegenüber dem Jahresbeginn zum Teil deutlich nach unten korrigiert. Die Spannweite der Prognosen ist gross: Sie reicht von einem Anstieg des Schweizer Leitindex SMI bis Ende Jahr um fast 10 Prozent auf 7050 Punkte bis zu einem Absacken auf 5900 Punkte.
Angesichts des schwierigen Umfelds bleiben die weiteren Aussichten auf das Börsengeschehen diffus – ein ständiges Auf und Ab der Märkte liegt in der Luft. Die Analysten befürchten ausserdem weitere Rückschläge an den Börsen, falls die schlechte Nachrichtenlage anhalten sollte. Die Erholung von der globalen Rezession sei mit Konjunkturprogrammen stimuliert worden und habe zu deutlich höheren Staatsschulden geführt.
Schulden machen Sorgen
«Die Verschuldungssituation ist besonders in den südeuropäischen Staaten kritisch», sagt Viktor Beck, Portfoliomanager der Vaduzer Centrum Bank. Die Ankündigung von rigorosen Sparpaketen dürfte die Anleger eher verschrecken als aufmuntern und das Wachstum im Euroraum behindern. Schweizer Industriefirmen, die hauptsächlich in den Euroraum exportieren, könnten wegen des schwächelnden Euros unter Druck geraten.
Die Sorgen der Anleger verlagern sich mittlerweile zusehends auf die USA. Die Konjunkturdaten der grössten Volkswirtschaft der Welt sind zuletzt eher verhalten ausgefallen. «Wachstumstreiber der Weltwirtschaft bleibt Asien, wenn auch in etwas abgeschwächter Form», erklärt Birgit Heim, Finanzanalystin der St. Galler Kantonalbank. Sie befürchtet ausserdem, dass die Entwicklungen der einzelnen Weltregionen künftig stärker auseinanderlaufen könnten.
Angesichts struktureller Probleme geht an den Märkten mittlerweile die Angst vor einem erneuten Abrutschen in eine Rezession, einem sogenannten «Double Dip», um. Die Experten gehen zwar nicht davon aus, dass die Weltwirtschaft nochmals einbrechen wird. Sie rechnen aber damit, dass sich der wirtschaftliche Aufschwung verlangsamen wird. «Die Aufarbeitung der Krise wird die Volkswirtschaften und damit auch die Märkte noch länger beschäftigen», sagt Dietmar Holzer, Leiter Anlageberatung der Volksbank Liechtenstein.
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