Ohne Vorwissen keine Wahrnehmung
Triesen. – Die Erfahrung der realen Welt mit künstlicher Intelligenz, wie Computer oder Roboter, nachzuahmen, ist eine der Hauptbeschäftigungen von Professor Heinrich Bülthoff. Er erforscht die Mechanismen des Sehens und Erkennens in Natur und Technik. Dabei stellt er die Frage: «Was können wir von den biologischen Systemen lernen?» Denn laut Heinrich Bülthoff gibt es eine Überlegenheit der natürlichen über die künstliche Intelligenz. Für Laien ist diese Thematik schwere Kost. Daher hat sich der Professor besonders Mühe gegeben, den Anwesenden sein Forschungsgebiet mit einer Reihe visueller Darstellungen anschaulich zu präsentieren.
Fahrzeuge ohne Fahrzeuglenker – dies hört sich erst mal sehr zukunftsorientiert an, doch bei einem Wettbewerb in den USA ging es genau darum. Autos sollten eine Strecke von rund 213 Kilomter meistern, und dies ohne Fahrer. Mit Computer, Sensoren und Laser-Scanner ausgestattet, versuchten die hoch technisierten Fahrzeuge, die vorgegebene Strecke zu bewältigen – nur wenige Autos kamen am Ziel an. Die sogenannten Robo Cars wurden sogar in abgesperrten Stadtteilen getestet. Heinrich Bülthoff resümiert: «Es wird noch eine Weile dauern, bis wir auch in Städten autonome Fahrzeuge sehen.»
Der Mensch ist ein komplexes kybernetisches System – es herrscht ein ständiger Kreislauf zwischen Wahrnehmung und Handlung. Die Kybernetik beschäftigt sich mit den Gesetzmässigkeiten der Steuerung, Regelung und Rückkopplung der Informationsübertragung und -verarbeitung in Maschinen, Organismen und Gemeinschaften. Anhand vieler Beispiele zeigt der Professor für Kybernetik auf, dass der Mensch nur aufgrund von Erfahrung und Vorwissen wahrnehmen kann. Jeder kennt die Bilder, die auf den ersten Blick nichts erkennen lassen, wird man aber auf eine konkrete Darstellung im Bild hingewiesen, erkennt man diese plötzlich und nimmt sie auch bei wiederholtem Hinsehen wahr.
Laut Heinrich Bülthoff ist insbesondere die richtige Perspektive von grosser Relevanz. Er zeigt den Zuschauern ein Bild eines vollkommen zertrümmerten Pianos. Im Anschluss wird die Kamera so geschwenkt, dass das Piano im Spiegel als Ganzes zu sehen ist. Der Professor klärt die verwunderten Zuhörer auf: Wenn das Piano im Spiegel von einer gewissen Perspektive aus zu sehen ist, nehmen wir es als Ganzes wahr.
Wissenschaft verständlich gemacht
Professor Heinrich Bülthoff ist wissenschaftlliches Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft und Direktor am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen. Heinrich Bülthoff ist ausserdem seit 1996 Honorar-Professor an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen und seit 2009 Distinguished Professor an der Korea University in Seoul. Mit seinem Vortrag in der Liechtensteinischen Musikschule in Triesen eröffnete er das Sommersemester der Vortragsreihe «Health and Life Sciences».
Alles rund um die Wahrnehmung
«Wahrnehmung ist nicht immer wahr», weiss Heinrich Bülthoff. Beispielsweise werden in der Filmindustrie perzeptuelle Tricks angewandt, die dem menschlichen Gehirn gar nicht auffallen. Diese Fehler in unserer Wahrnehmung nutzen die Filmemacher, um in ihren Werken einzelne Objekte zu verändern, ohne dass diese Szenen nachgedreht werden müssen.
Wie weit die Filmindustrie bereits ist, machte der Professor an dieser Stelle mit dem Erfolgsfilm «Avatar» deutlich, in welchem künstliche Gesichter und Menschen geschaffen wurden. Auch die automatische Gesichtserkennung wird in der Abteilung von Professor Bülthoff erforscht. An Flughäfen wurden sogenannte Gesichtserkennungsgeräte getestet. Diese wurden dann aber aufgrund hoher Fehlerhaftigkeit wieder eingestellt. Bei diesen Geräten wird vor allem der Frage nachgegangen: «What can we learn from human face recognition?»
Der Vortragende zeigte wieder anhand vieler Beispiele, dass das menschliche Gehirn nicht viele Informationen braucht, um etwas zu erkennen. Dies ist abermals darauf zurückzuführen, dass wir das Gesicht bereits kennen. Aber was ist mit unbekannten Gesichtern? Ein geeignetes Beispiel dafür ist die Gegenüberstellung von Zeuge und Tatverdächtigen.
Auf der linken Seite ist in Grossformat ein junger Mann zu sehen, auf der rechten Seite mehrere Männer, die ihm sehr ähnlich sehen. Für die Zuhörer war es sehr schwer, den «Täter» zu identifizieren. Ein Indiz dafür, dass Gegenüberstellungen nicht immer zu einem schlüssigen Ergebnis führen?
Natürliche Intelligenz vorneweg
Gegen Endes des Vortrags stellt Heinrich Bülthoff noch Beispiele aus der aktuellen Forschung seiner Abteilungdes Max-Plack-Instituts vor und zeigt wie er und sein Forscherteam arbeiten. Ein gewichtiges Thema ist die Raumwahrnehmung, dabei haben sie ein 3D-Modell der Stadt Tübingen erarbeitet und wollen damit die Wegfindung in Städten untersuchen.
In Experimenten gehen Probanden selber virtuell durch die Stadt. Sie sitzen dabei auf einem Stuhl und vor ihnen erstreckt sich Tübingen auf einer grossen Leinwand als virtuelles 3D-Modell. Um herauszufinden, auf welche Weise wir uns den Weg in fremden Städten merken, müssen die Probanden zusätzlich Nebenaufgaben lösen. Mit diesen Versuchen konnte herausgefunden werden, dass man je nach Aufgabe unterschiedlich abgelenkt wird und demnach den falschen Weg einschlägt.
Ausserdem arbeiten die Wissenschaftler am Max-Planck-Institut mit Flugsimulation. Laut Heinrich Bülthoff werden die Schüler von Flugschulen im Hinblick auf mögliche Turbulenzen während des Fluges viel zu wenig ausgebildet. Er möchte dazu anregen, dies besser zu trainieren.
Mit einer hochtechnisierten Ausstattung ist es der Wissenschaft möglich, Wahrnehmungsforschung zu betreiben. Heinrich Bülthoff hat einige Methoden der virtuellen Realität vorgestellt, welche der Erfahrung der realen Welt nahezu entsprechen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist das biologische System aufgrund der Fähigkeit des menschlichen Gehirns dem küstlichen noch voraus – fragt sich nur, wie lange noch. (alf)
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