«Ich träume von einem Häuschen mit Garten»
Sie liebt Weihnachten, backt und kocht, verbringt ihre Freizeit mit Tieren und Stricken und träumt von einem Häuschen mit Garten. Sandy Caracciolo ist die perfekte Schwiegertochter – mal abgesehen von ihren implantierten Hörnern, den angespitzten Zähnen, der gespaltenen Zunge und den unzähligen Tattoos.
Beim Händedruck spürt man ausser der zierlichen Hand vor allem eines: das implantierte Silikon auf ihrem Handrücken. Es fühlt sich zwar befremdlich an, aber auch irgendwie angenehm und überraschend weich. Am liebsten würde man gleich nochmals zudrücken und das Implantat genauer unter die Lupe nehmen. Doch dazu ist keine Zeit. Der quirlige Mopswelpe Jay Jay zieht die ganze Aufmerksamkeit auf sich. Amüsiert beobachtet Sandra Caracciolo die Begrüssungszeremonie zwischen ihrem Schützling und dem Besuch. Hundefreundin trifft Hundefreundin – die Schlussfolgerung ist klar. Bevor es ans eigentliche Interview geht, werden erst einmal Geschichten über die geliebten Vierbeiner ausgetauscht. «Was? Du hast auch einen Mops?», freut sich die 23-Jährige. «Den musst du das nächste Mal unbedingt mitnehmen, damit er mit Jay Jay spielen kann!» Die Augen von Sandy Caracciolo leuchten, wenn sie von ihrem Hund und den drei Katzen spricht, die zu Hause auf sie warten. «Ich liebe Tiere über alles», sagt sie. «Sie symbolisieren für mich das Gute, die schöne Seite des Lebens.» Genau das sollen auch die tätowierten Katzen auf ihrem rechten Arm symbolisieren, während der linke Arm mit Bildern von Totenköpfen, dem Namen ihres «Nonno» und einer Uhr mit ihrer Geburtszeit die Vergänglichkeit und den Tod darstellen soll – «der genauso zum Leben gehört», sagt die 23-Jährige und fügt augenzwinkernd an: «Das hört sich jetzt spiritueller an, als es ist. Eigentlich bin ich gar nicht so der mystische Typ. In erster Linie gefallen mir die Tattoos einfach.»
Im Nu ist der Link von den Tieren zu ihrer Körperkunst gemacht – und der Zuhörer taucht ein in die faszinierende Welt der «Bodymodification». Fragen sind bei Sandy Caracciolo überflüssig. Ein Wort gibt das andere und die 23-Jährige plaudert so unbefangen und fröhlich über ihr Leben, dass man sich einfach am liebsten nur zurücklehnt, ihr zuhört und sie vor allem beobachtet. Denn zu sehen gibt es viel. Sie ist mit Piercings und Tattoos übersäht, zwischen den Stirnfransen blitzen zwei implantierte Hörner hervor, die Ohren sind angespitzt und die Ohrlöcher riesengross. Zwei Narben unterhalb der Mundwinkel, die durch ein sogenanntes «Skin Peeling» erzeugt wurden, die spitzen Eckzähne und die gespaltene Zunge geben ihrer ganzen Erscheinung einen Vampir-Look, der von den Teflon-Implantaten am Dekolleté noch unterstrichen wird. Rein optisch ist sie ein wahres Kunstwerk, wobei sie sich selbst nie als solches bezeichnen würde. «Ach, für mich ist meine Erscheinung nichts Besonderes. Andere färben sich die Haare, ich verändere halt meinen Körper. Jeder, wie es ihm gefällt. Wenn ich in den Spiegel sehe, sehe ich darin einfach nur Sandy.»
Mit starkem Willen
Entdeckt hat sie ihre Leidenschaft für Bodymodification in jungen Jahren. «Genau gesagt im Alter von drei», lacht Sandy Caracciolo. «Mein Vater ist Italiener und da ist es üblich, dass die Töchter ihre ersten Ohrringe bekommen. Aber im Gegensatz zu anderen Kindern habe ich beim Stechen nicht geweint, sondern es hat mich fasziniert.» Mit sieben Jahren beobachtete sie dann ein Treffen der Hells Angels und war so begeistert von den tätowierten Körpern, dass sie zum Schrecken ihren Eltern lauthals verkündete: «Ich werde auch ein Hells Angel!» Es folgten ein Nasen-, ein Bauch- und mit 14 Jahren ein Zungenpiercing. «Das war das letzte offizielle Piercing, das mir meine Eltern erlaubten. Die restlichen musste ich heimlich machen.» Und mit jeder neuen Veränderung an ihrem Körper verstärkte sich ihre Gewissheit, wohin sie ihre berufliche Bestimmung führen sollte. «Als ich Mum und Dad meinen Entschluss verkündete, dass ich Piercerin werde, fanden sie das gar nicht lustig», erzählt die 23-Jährige. «Sie sagten mir, dass ich in diesem Falle nicht auf ihre Unterstützung zählen könne.» So zog Sandy Caracciolo bereits mit 16 Jahren von zu Hause aus. «Das war nicht so dramatisch, weil meine Eltern nie den Kontakt zu mir abgebrochen haben. Sie wollten mir einfach einen Denkzettel verpassen und rechneten damit, dass ich von selbst wieder heimkehren würde.» Doch da hatten sie den starken Willen ihrer Tochter unterschätzt.
Sandy Caracciolo begann ein Praktikum in einem Piercingstudio in Thurgau, wo sie ihre ersten Berufserfahrungen sammelte. Und bereits mit 19 Jahren machte sie sich mit einem 35-Quadratmeter-Studio in Zürich selbstständig. «Zu Beginn war es natürlich schwer», erzählt sie. «Ich jobbte nebenbei in einem Club, um mich über Wasser zu halten. Aber mit der Zeit hatte ich immer mehr Stammkunden und mein Bekanntheitsgrad stieg.» Und irgendwann lief das Geschäft so gut, dass sie sich ein grösseres Studio leisten konnte. Heute arbeiten in ihrem Laden «True Body Art» auch drei Tätowierer, die das Angebot im Bodymodification-Bereich ergänzen. «Wir punkten durch Professionalität und höchste hygienische Ansprüche», sagt Sandy Caracciolo. «Das fördert unseren guten Ruf.»
Die Liebe zum Besonderen
Zum Bekanntheitsgrad ihres Studios trägt natürlich auch Sandy Caracciolo als Person bei. Ihre optische Erscheinung ist so aussergewöhnlich, dass sich die Medien um sie reissen – egal ob für Talkshows oder Fotostrecken. Vielerorts hat sie bereits Kultstatus erreicht. Denn wer hat schon Hörner und kann mit seiner Zunge klatschen? Die Spaltung der Zunge gehört übrigens – laut ihrer eigenen Aussage – zu den schmerzvollsten Veränderungen, die sie an ihrem Körper vorgenommen hat. «Damals war ich 17 Jahre und wusste ehrlich gesagt überhaupt nicht, was mich erwartet.» Nach dem Eingriff musste sie zwei Wochen lang zweimal pro Tag die Zunge auseinanderziehen, damit sie nicht wieder zusammenwächst. «Das war die Hölle. Ich konnte nichts mehr essen und nicht mal reden. Ich bin fast durchgedreht.»
Aber auch wenn sie sich selbst als «extrem wehleidig» beschreibt, hindern sie solche Erfahrungen nicht daran, immer weiterzumachen. «Wenn ich etwas will, denke ich einfach nicht an den Schmerz, sondern nur an das Resultat. Und das ist es wert.» Zum Beispiel sei ihr Geschmacksempfinden seit der Zungenspaltung viel intensiver. «Ich kann mich noch genau erinnern, als ich den ersten Schluck Pfirsich-Eistee getrunken habe. Das war ein wahres Feuerwerk im Mund.» Sie liebt das Aussergewöhnliche, das Einzigartige. «So habe ich zum Beispiel auch einen Magneten im Finger und ein Piercing im Halszäpfchen – das haben nur sechs andere Menschen auf dieser Welt», sagt sie stolz. «Ich wollte einfach was Spezielles haben.» Allerdings habe es ihr einmal fast das Leben gekostet, als ein Gummibärchen darin stecken blieb. «Ich würgte und röchelte, bis ich es schliesslich entfernen konnte», erzählt sie unbekümmert. «Ich dachte, mein letztes Stündchen hat geschlagen.»
Erstaunlich bodenständig
Egal, was sie erzählt, Sandy Caracciolo überrascht immer wieder. In eine Schublade lässt sie sich nicht stecken – das zeigen auch die Erklärungen zu ihren vielen Tattoos. Da gibt es zum Beispiel den Weihnachtsmann auf ihrem Daumen, «denn ich liebe Weih-nachten – je kitschiger, je besser». Dann gibt es Symbole von Koch- und Backlöffeln, «denn ich stehe ungeheuer gerne in der Küche». Ihr nächstes Projekt ist ein kleines Tattoo von einem Wollknäuel auf ihrem Finger, da sie leidenschaftlich gerne stricke. «Ich weiss, solche Bekenntnisse sind für die meis-
ten ein Schock», lacht sie beim Anblick der grossen Augen. «Man schätzt mich oft aufgrund meines Aussehens falsch ein. Aber ich hänge nicht an irgendwelchen freakigen Partys rum, sondern bin eigentlich sehr häuslich. Im Grunde bin ich ein richtiges Hausmütterchen und ein absoluter Familienmensch.» Deshalb freut es sie auch umso mehr, dass ihre Eltern sie heute so akzeptieren, wie sie ist. «Wir haben ein sehr enges Verhältnis. Mittlerweile sind sie sogar stolz auf ihre Tochter, dass sie es so weit gebracht hat.»
Dass ihr Aussehen die Blicke auf sich zieht, ist sie gewohnt. Da erlebe sie immer wieder die skurrilsten Situationen. So habe sie einmal bei einer Reise nach Singapur die Menschen freundlich angelächelt – so wie es eben ihre Art sei. «Die haben aber nur mit angsterfüllten Augen zurückgestarrt», schmunzelt sie. «Später klärte mich dann jemand auf, dass man mich mit der Vision einer Todesgöttin verwechselte, die auf den Bildern die gleichen spitzen Zähne hat.» Um derartige Missverständnisse und allfällige Vorurteile zu vermeiden, schätze sie es, wenn man sie bei Fragen direkt anspreche. Denn eigentlich gibt es nur eine Sache, mit der sie schlecht klarkommt: «Und das ist Intoleranz.» Erschreckenderweise werde ihr diese gerade von jungen Menschen des Öfteren entgegengebracht. «Sie verhalten sich respektlos und dumm», sagt sie. «Einmal packte mich ein Junge am Bahnhof einfach am Arm, um ein Foto zu schiessen – als ob ich irgendein freilaufendes Tier wäre. So etwas macht mich wütend.» Da seien ihr die Kontakte mit älteren Menschen bedeutend lieber: «Sie sind mehr neugierig als voreingenommen, fragen nach den Beweggründen für mein Aussehen. Da haben sich schon sehr interessante Gespräche entwickelt» Es sei alles eine Frage des Respekts, betont die 23-Jährige. «So wie ich andere akzeptiere, erwarte ich, dass sie mich akzeptieren. Es ist nicht meine Absicht, zu provozieren. In muslimischen Ländern verdecke ich zum Beispiel auch meine Haut. Aber ich lasse mir von niemandem vorschreiben, was ich mit meinem Körper zu tun habe.»
Sie weiss, was sie will und wer sie ist. Und sie lebt das Leben, das sie liebt. Was wünscht sich eine junge Frau wie sie für die Zukunft? «Beruflich hoffe ich, dass mein Studio weiterhin erfolgreich bleibt. Privat träume ich von einem Häuschen mit Garten und ganz vielen Tieren drin», lächelt Sandy Caracciolo. Ein Leben mit ihrem Freund, einem professionellen Bodybuilder. Auch Familie? «Ich mag Kinder, aber ich weiss nicht, ob ich es einem Kind antun kann, eine Mutter zu haben, die so aussieht wie ich», sagt sie nachdenklich. «Menschen können sehr gemein sein. Ich würde nicht wollen, dass es wegen mir gemobbt wird oder irgendwelche Probleme bekommt.» Bei diesen Worten sollte selbst dem letzten Skeptiker einleuchten, dass der Begriff «Oberflächlichkeit» genauso wenig auf sie zutrifft wie derjenige der «Verrücktheit». Sandra Caracciolo ist einfach eine aussergewöhnliche Frau, die konsequent einem Lebensmotto folgt, das sie auch auf ihrem Handrücken verewigt hat: «Free mind, free body»
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