«Ich brauche den Adrenalinschub!»
Im März 2011 lässt die 17-jährige Martina ihren Traum, Skirennläuferin zu werden, endgültig los. Ein schwieriger Entscheid, aber sie trifft ihn nach reiflicher Überlegung. Klar, dass sie jetzt eine Lehrstelle suchen wird. Nur was für eine? Wo soll sie suchen und bei wem soll sie anklopfen? Das Gefühl der Orientierungslosigkeit ist völlig neu für die ehemalige Rennläuferin, aber sie sieht zu, dass es sich in ihrem Leben nicht breitmacht. Beim Sport hat sie gelernt, mit Niederlagen und Widerständen umzugehen, ausserdem spürt sie die bedingungslose Unterstützung ihrer Familie. Martina ruft beim Amt für Berufsberatung an und erhält umgehend einen Termin bei Georg Kaufmann. Nach einem intensiven Gespräch und verschiedenen Eignungstests bieten sich mehrere Wege an. Sie könnte eine technisch-kreative Richtung einschlagen und ihr Hobby Fotografie zum Beruf machen. Eine andere Option ist eine kaufmännische Lehre, denn Martina liebt Sprachen. Die dritte Alternative ist ein soziales Engagement, denn der Umgang mit Menschen bereitet ihr Freude.
Auf sich selbst gestellt
Zu diesem Zeitpunkt ist alles offen. Martina jobbt für drei Monate in einem Schnellimbiss in Schaan und spart das Geld für einen Auslandaufenthalt. Das Ziel ist Englisch und Fotografieren zu lernen, aber sie spürt auch den inneren Drang, in eine fremde Kultur einzutauchen. Nach der Konsultation einer Agentur für Sprachaufenhalte in Zürich entschliesst sie sich zu einem sechsmonatigen Aufenthalt in Thailand. Sie besucht ein Semester lang das Technical College von Udon Tani, einer Stadt im Nordosten des Landes. 5000 Schüler studieren an dieser Institution, Martina ist weit und breit die einzige deutschsprachige Studentin und ausser den Englischlehrern sprechen die meisten schwer verständliches Englisch. Sie merkt bald, dass sie hierher gekommen ist, um auf eigenen Füssen zu stehen und sich durchzuschlagen. Die Englischlehrer sind gut, aber die Lehrer für Fotografie zeigen wenig Interesse, den Studenten etwas beizubringen. Es gibt kaum Pflichtunterrichtsstunden, Martinas Selbstdisziplin ist gefordert. Letztlich bringt sie sich vieles selbst bei.
«Schau einem Mönch nie in die Augen»
Mit der Gastfamilie hat Martina Glück, es sind wohlhabende Leute und sie wohnt in einem schönen Haus, hat ein eigenes Schlaf- und Badezimmer mit warmem Wasser.
Die Hoffnung, dass die Gasteltern ihr helfen, sich in der thailändischen Kultur zurechtzufinden, erfüllt sich nicht. Sie sprechen kaum Englisch und sind einfach zu beschäftigt mit ihrer Firma. Und die Gastgeschwister erscheinen anfangs ein wenig distanziert. Nach und nach lernt Martina die kleinen Unterschiede des thailändischen Alltags kennen. Sie lernt, dass Frauen dort die Handtasche nicht auf den Boden stellen oder im Tempel nie die nackten Fusssohlen zum Buddha zeigen dürfen. Und dass sie auf der Strasse, älteren Leuten gegenüber besonderen Respekt zollen muss: Sie verbeugt sich, wenn ihr ältere Menschen oder Lehrer begegnen. Und sie weiss, dass sie als Frau um Mönche auf der Strasse einen grossen Bogen machen muss. Auch das gebietet der Respekt. Die Regeln sind in den Augen einer Europäerin merkwürdig, aber sie haben ihren Ursprung in der thailändischen Kultur und Religion.
30 Absagen und ein Facebook-Kontakt
Trotz der geografischen Distanz zu Liechtenstein weiss Martina, dass sie die Berufswahl zu Hause nicht aus den Augen verlieren darf. Per E-Mail schreibt sie im Herbst 2011 fast vierzig Bewerbungen für KV-Lehrstellen in Liechtenstein. Und angesichts der Absagen gerät sie beinahe inPanik. Teilweise kommen nicht einmal Rückmeldungen. Ein einziges «Ja», d.?h. eine Zusage für ein Vorstellungsgespräch erhält sie von Ivan Schurte, dem Bereichsleiter von 100pro! der Liechtensteinischen Wirtschaftskammer. Sie kann sich gut vorstellen, dass ihre Noten in Englisch und Französisch eine Rolle spielen. Im letzten Schuljahr am St. Elisabeth hat sie mehr als 60 Halbtage wegen des Skisports gefehlt. Und obwohl die Lehrkräfte sie damals tatkräftig unterstützten und sie vieles nachholen konnte, haben ihre Leistungen gelitten und sie ist vom A- in den B-Zug gerutscht. Sichtlich nervös schreibt sie eine E-Mail an ihren Berufsberater, damit sie gleich nach der Rückkehr einen Termin bekommt. In dieser Zeit wird sie von einer Freundin auf Facebook kontaktiert, die ihr begeistert von der Lehre als Fachangestellte Gesundheit berichtet. «Wäre das nicht auch etwas für dich», schreibt die Freundin. «Mal sehen», denkt Martina.
Jetzt kommts
Gibt es Zufälle? Am Tag ihrer Rückkehr aus dem Fernen Osten im Februar 2011 begegnet Martina der Mutter ihrer Facebook-Freundin. Und wieder dreht sich das Thema um die Lehre als Fachangestellte Gesundheit, welche die Freundin macht. «Martina, das wäre doch auch etwas für dich!» ... Als Martina kurz darauf beim Termin mit dem Berufsberater die Lehre im Gesundheitswesen anspricht, beginnt Georg Kaufmann zu strahlen. Gerade letzte Woche hat er einen Anruf vom Ausbildungsleiter vom Betreuungszentrum St. Laurentius in Schaan erhalten. Es ist ein Praktikumsplatz bis Ende Juli zu vergeben. Martina bewirbt sich und wird prompt zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Der Praktikumsplatz ist ihr sicher. Kurze Zeit später bewirbt sie sich bei der LAK um eine Lehrstelle als Fachfrau Gesundheit. Den Aufnahmetest besteht sie und wird auch dort zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Trotz grosser Nervosität überzeugt sie die vier anwesenden Fachleute und schafft so die zweite Hürde. Drei Monate nach ihrer Rückkehr aus Thailand hat sie den Lehrvertrag in ihrer Tasche. Parallel hat sie auch die Chance zum Bewerbungsgespräch für das KV bei der Wirtschaftskammer wahrgenommen. Die Entscheidung fällt ihr jedoch nicht schwer. Es zieht sie in den sozialen Beruf.
Endlich gewonnen!
Wow, der Lehrvertrag ist ein Gefühl wie auf dem Siegerpodest – oder noch besser. Martina, die von April bis Juli 2012 ein Praktikum bei ihrem künftigen Arbeitgeber, der Liechtensteinischen Alters- und Krankenhilfe (LAK) im Laurentius gemacht hat, ist erleichtert und stolz, aber auch voller Dankbarkeit für die Leute, die ihr in den letzten 18 Monaten den Rücken gestärkt haben. Im Nachhinein hat sie gemerkt, dass die dreissig Absagen ihren Sinn hatten – das KV war nicht ihre Berufung. Obwohl es in ihrem neuen Beruf im Gesundheitswesen auch schwierige Seiten gibt, beispielsweise beim Umgang mit demenzkranken Senioren, freut sie sich riesig über ihre Aufgabe. Und wo sieht sie sich in fünf Jahren? «Die Arbeit als Rettungssanitäterin finde ich extrem spannend. Das ist ein Fernziel von mir. Die Ausbildung möchte ich später gerne machen, denn ich brauche den Adrenalinschub.»
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