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Tempus fugit ? Das Phänomen Zeit

Seit jeher versucht der Mensch, das Phänomen Zeit zu erfassen ? anfangs mit Kalendern, später mit Atomuhren. Tatsache ist: Obwohl man sie immer genauer messen kann, scheint einem die Zeit unaufhörlich davonzurennen. Schuld daran ist die «soziale Beschleunigung».

Die Geschichte der Zeitmessung ist fast so alt wie die Menschheit selbst ? dies bezeugen zumindest verschiedene Artefakte aus der Steinzeit. So fanden Forscher beispielsweise an den Wänden mehrerer Höhlen eindeutige Darstellungen eines Mondphasen-Zyklus. Auch sind eine Reihe von Knochenfragmenten überliefert, die man allgemein für kalendarische Aufzeichnungen hält. Der Mensch besass also schon früh die Fähigkeit, die Zeit in Monate und Tage zu unterteilen. Vor 6000 Jahren gelang es ihm sogar, mithilfe des Sonnenstandes die Zeit in Stunden zu gliedern: Das Volk der Sumerer steckte hierfür lediglich einen Stock in den Sand und beobachteten den wandernden Schatten. Mithilfe von Markierungen im Boden teilten sie den Tag in zwölfStunden ein ? eine Stunde war damals also so lang wie heute zwei. Ähnlich haben das auch die Chinesen und Ägypter gemacht. Der Nachteil an diesen Sonnenuhren ist aber, dass sie bei schlechtem Wetter sowie nachts nicht funktionieren.

Die erste Uhr

Das war vielleicht auch der Grund, weshalb sich der Mensch immer ausgefeiltere Methoden einfallen liess, um der Zeit Herr zu werden: Auf die Sonnenuhr folgten Wasser-, Sand- und Kerzenuhren. Diese Zeitmessungen waren aber alle sehr ungenau. Das änderte sich im 13. Jahrhundert mit der Erfindung der ersten mechanischen Räderuhr, die es dem Menschen erstmals ermöglichte, sein Leben nach der Minute und Sekunde auszurichten. Die mechanische Räderuhr wurde das Standard-Zeitmessgerät, bis im 16. Jahrhundert federgetriebene und Taschenuhren folgten sowie um 1650 die Pendeluhr. Und wie sieht die Zeitmessung heute aus? Fast jeder trägt eine vollelektronische Armbanduhr und Atomuhren geben genauestens den Takt der Welt vor. Die derzeit besten Atomuhren würden erst nach 30 Millionen Jahren umeine Sekunde falsch gehen.

«Ich bin im Stress»

Auch wenn der Mensch über die Jahre hinweg gelernt hat, die Zeit in Minuten und Sekunden zu unterteilen,  hat er letztendlich nicht mehr davon zur Verfügung. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: In der modernen Gesellschaft scheint einem die Zeit davonzurennen und jeder versucht, mit ihr Schritt zu halten. Mittlerweile gehört es schon zum guten Ton, sich über die Rastlosigkeit und Schnelllebigkeit der Moderne zu beklagen. Viele Menschen fühlen sich zudem ständig gehetzt und haben das Gefühl, Zeit sei so knapp wie ein wertvoller Rohstoff. Warum dem so ist, erklärt der deutsche Soziologe und Beschleunigungsforscher Hartmut Rosa in seinem Buch «Beschleunigung ? Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne». Er beschreibt darin anhand vieler Beispiele, wie der Mensch stets versucht, die Erlebnisdichte pro Zeiteinheit zu erhöhen ? und damit am Ende das wahre Leben verpasst.

Die Gründe der Hetzerei

Laut Rosa liegt der Ausgangspunkt der «sozialen Beschleunigung» im rasanten technischen Fortschritt begründet: Das Auto ist schneller als das Pferd und die E-Mail schneller als der Brief. Während man früher Tage brauchte, um per Kutsche die nächste Grossstadt zu erreichen, reist man heute in wenigen Stunden in ein fernes Land. Ein Brief erreichte seinen Empfänger ? je nach Distanz ? erst nach Wochen, ein E-Mail in wenigen Sekunden. Dieser rasante Wandel, dem sich beinahe alle unterwerfen, verändert den sozialen Erwartungshorizont: Die Menschen erwarten voneinander eine höhere Reaktiosfrequenz ? eine E-Mail soll in derselben Stunde beantwortet werden, und kurzfristig gilt es noch einen Termin in Zürich wahrzunehmen. Diese Art von Beschleunigung definiert Rosa als «Mengenzunahme pro Zeiteinheit», wobei es sich bei der Menge beispielweise um eine zurückgelegte Wegstrecke, eine kommunizierte Datenmenge oder produzierte Güter handeln kann. Das heisst, in derselben Zeit wird heute viel mehr erwartet und verlangt. Die Folge: Die Zeitressourcen werden knapp und das Leben wird rasanter.

Gruppenzwang

Fast Food, Speed-Dating, Power-Nap oder Multitasking: Diese «Erfindungen der Moderne» sind meist erfolglose Versuche, der Verknappungder Zeitressourcen entgegenzuwirken. Anstatt dass der Mensch kurz innehalten würde, um über seinen wahnwitzigen Lebenswandel nachzudenken, versucht er lieber, durch eine Steigerung des eigenen Lebenstempos Schritt zu halten. Zum Teil bleibt ihm aber auch nichts anderes übrig: Wer sich nämlich der sozialen Beschleunigung verweigert, läuft Gefahr, sich im allgemeinen Wettbewerb nicht mehr behaupten zu können ? egal ob nun im Berufs- oder Sozialleben. Wenn die ganze Gesellschaft beschleunigt, kann man nicht einfach indidividuell langsamer laufen, sonst stolpert man. Für den Einzelnen bleibt lediglich die Möglichkeit, reflektiert mit dem herrschenden Zeitdruck umzugehen und sich hin und wieder zu bremsen und aus dem Spiel zu nehmen. (sb)

Artikel: http://www.vaterland.li/importe/archiv/liewo/tempus-fugit-das-phaenomen-zeit-art-83454

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