Kinderbetreuungskulturen in Europa
Die europäischen Gesellschaften haben ganz unterschiedliche Vorstellungen davon, wie und von wem Kinder betreut werden sollten. Das Angebot an Betreuungseinrichtungen hängt eng mit kulturellen Kontexten zusammen: Zum Beispiel mit Vorstellungen über Kindheit, Privatssphäre und Öffentlichkeit, mit dem Verhältnis der Gesellschaften gegenüber «ihrem» Staat, mit den jeweils vorherrschenden Geschlechterbildern, der Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt und der Integration der Väter in die Familie.
Die Länder Schweden, Frankreich und Deutschland sind ein gutes Beispiel für drei verschiedene Varianten von Kinderbetreuungskulturen innerhalb Europas: Schweden verfügt über die höchste Dichte an öffentlichen Einrichtungen zur Kinderbetreuung. Das familienpolitische Leitbild ist das des Zwei-Verdiener-Haushalts. Frankreich, dessen Familienpolitik ebenfalls auf dem Leitbild des Zwei-Verdiener-Haushalts beruht, steht in Europa für die grösste Variationsbreite an staatlich geförderten privaten und öffentlichen Betreuungsmöglichkeiten. Deutschland wiederum weist kein kohärentes Konzept auf. Die Gesellschaft ist gespalten zwischen dem noch prägenden Leitbild der erwerbstätigen Mutter in den ostdeutschen Bundesländern und Leitbildern in den westdeutschen Bundesländern, die sich zwischen privater oder privat organisierter Kindererziehung und dem Ruf nach mehr staatlichen Hilfen hin und her bewegen.
Schweden als Vorzeigebeispiel
In Schweden sind die Gemeinden für die öffentliche Kinderbetreuung zuständig. Seit den frühen 70er-Jahren – als die Frauen in grosser Zahl auf den Arbeitsmarkt drängten – erfolgte eine rasche Expansion dieser Einrichtungen. Alle erwerbstätigen Eltern, die eine Kinderbetreuung benötigen, haben einen gesetzlichen Anspruch auf Vorschultagesstätten für Kinder im Alter von ein bis sechs Jahren und auf Freizeitzentren für Kinder im Alter von sieben bis zwölf Jahren. 76 Prozent der Vorschulkinder und 73 Prozent der Kinder bis zwölf Jahre nehmen diese Einrichtungen in Anspruch. Die Öffnungszeiten richten sich nach den Arbeitszeiten der Eltern. Die Tagesstätten werden entweder von der Gemeinde oder als Kooperative von Eltern oder Angestellten oder auch privat betrieben. Die Gebühren für die Kinderbetreuung betragen ein bis drei Prozent des Einkommens der Eltern bis zu einem festgelegten Höchstbetrag. Die Einführung der Maximalbeiträge bleibt den Gemeinden überlassen.
Die Franzosen sind flexibel
In Frankreich werden Kleinkinder im Alter zwischen zweieinhalb Monaten und drei Jahren in Kinderkrippen und -horten betreut. Dabei liegt das pädagogische Augenmerk auf der Frühförderung für die Kleinsten. Zusätzlich gibt es verschiedene Tagesmütter-Modelle. Wenn französische Eltern eine Tagesmutter anstellen, dann bezahlen sie nur ein Viertel der daraus entstehenden Kosten – die Sozialversicherung übernimmt der Staat und zusätzlich sind die Kosten steuerlich absetzbar. Fast 100 Prozent der Kinder zwischen drei und sechs Jahren und fast 35 Prozent der Kinder im Alter von zwei Jahren besuchen die «Ecole maternelle», bevor mit sechs Jahren die eigentliche Schulpflicht beginnt. In den Schulen gibt es vor und nach der Schulzeit flankierende Betreuungsangebote. Ausserdem nehmen die Kinder ihr Mittagessen in den schuleigenen Kantinen ein.
Unzufriedenheit in Deutschland
Ein rechtlicher Anspruch auf einen Kindergartenplatz besteht in Deutschland für Kinder ab drei Jahren. Oftmals können diese den Kindergarten nur am Vormittag besuchen, da es für die Nachmittagsbetreuung keine Plätze gibt. Für Schulkinder gibt es kaum weiterführende Betreuungsmöglichkeit. Betreuungsangebote am Nachmittag werden sehr gering angeboten. Die ausserhäusliche Kinderbetreuung ist für Eltern in Deutschland ein grosses Problem. Einen Krippenplatz für Kleinkinder bis drei Jahre gibt es in Westdeutschland nur für jedes fünfundzwanzigste Kind. Entsprechend hoch ist die Unzufriedenheit der Eltern. Viele weichen daher auf Tagesmütter aus, die oft ohne entsprechende Ausbildung und Infrastruktur arbeiten und hohe Kosten mit sich bringen. Die Umfrage «Perspektive-Deutschland» von 2002 zeigt, dass viele Mütter bei besseren Betreuungsmöglichkeiten stärker am Erwerbsleben teilhaben würden.