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«Jede Geburt ist ein wunderschönes Erlebnis»

Vor mehr als 50 Jahren flüchtete Birgitt Jung mit ihrer Familie aus der DDR in die Schweiz. Heute arbeitet die 61-jährige Hebamme in der Geburtenabteilung des Landesspitals Vaduz und wird zeitgleich mit deren Schliessung am 1. April ihre wohlverdiente Pension antreten.

Es ist Mittwoch. Draussen dämmert der Morgen und langsam erwacht die Welt. Im Gebärsaal 1 im Landesspital Vaduz liegt eine junge Frau in den Wehen. Sie ist schweissgebadet und gezeichnet von den Anstrengungen der vergangenen Nacht. Neben ihr steht ihr Lebenspartner und drückt ihre Hand. «Gleich ist es so weit, nur noch einmal pressen ? und das Atmen nicht vergessen», weist Birgitt Jung die werdende Mutter an. Die Hebamme hat die Situation voll unter Kontrolle. Routiniert begleitet sie die Eltern durch die Geburt, gibt Anweisungen und Hilfestellungen und strahlt dabei eine unglaubliche Ruhe aus ? kein Wunder, schliesslich hat Birgitt Jung bereits über 1500 Liechtensteinern auf die Welt geholfen.
Noch eine letzte Presswehe, dann ist es so weit: Der kleine Beat erblickt das Licht der Welt und schreit aus voller Lunge. Behutsam legt Hebamme Jung den neuen Weltenbürger auf die Brust seiner Mutter. Nun ist die kleine Familie komplett. Mutter und Vater weinen vor Glück und auch Birgitt muss sich eine Träne verkneifen. Dieser Moment ist auch für sie ein besonderer: «Für mich ist jede Geburt ein wunderschönes Erlebnis ? wenn es Mutter und Kind gut geht und der Vater am Ende noch auf den Beinen steht, dann bin ich glücklich und zufrieden», bekennt die gebür­tige Ostdeutsche aus Altstätten lächelnd. Seit über 20 Jahren arbeitet sie als Hebamme im Landesspital. Dort ist sie quasi eine Institution ? aber nur noch bis 1. April, denn zeitgleich mit der Schliessung der Geburtenabteilung wird Birgitt ihre Pension antreten.

Flucht aus der DDR

Geboren und aufgewachsen ist Birgitt Jung in der ehemaligen DDR, genauer gesagt im sächsischen Hartmannsdorf. Im Jahr 1960 ? Birgitt war gerade sieben Jahre alt ? beschlossen ihre Eltern, aus dem kommunistischen Land zu flüchten. «Mein Vater war damals Bauer und hatte zu befürchten, dass sein Hab und Gut enteignet und verstaatlicht wird», erzählt sie. Die Tatsache, dass man ihm alles wegnehmen und ihn somit seiner Selbstbestimmung berauben könnte, habe ihn letztlich zur Flucht bewegt. «Er sah schlichtweg in der DDR keine Zukunft mehr für sich und seine Familie.» Und so kam es, dass Mama und Papa Jung eines Sonntagmorgens mit ihren drei Kindern ins Auto stiegen und Richtung Berlin fuhren. «Unsere Eltern erzählten uns damals, dass wir den Zoo in Leipzig besuchen würden», kann sich Birgitt erinnern.
Kurz vor Berlin parkierte Vater Jung jedoch das Auto in der Nähe eines Bahnhofs und bestieg mit seiner Familie einen Zug in Richtung West-Berlin. «Der Waggon, in den wir stiegen, war proppenvoll. Die Menschen standen Schulter an Schulter in den Gängen ? ein Bild, das ich noch heute vor mir sehe.». Diese totale Überbelegung war vielleicht auch der Grund, weswegen der Zug an der Grenze nicht kontrolliert wurde und nach West-Berlin weiterfahren durfte. Ein Glück für Familie Jung, denn damals versuchten so einige DDR-Bürger per Bahn zu flüchten. Diejenigen, die kontrolliert wurden, wurden wieder in eine ungewisse Zukunft zurückgeschickt, den anderen hingegen winkten die Freiheiten der westlichen Welt.

Ab in die Schweiz

Die ersten paar Tage nach ihrer Flucht verbrachte Birgitt Jung in einem Auffanglager in West-Berlin. Sie und ihre Familie waren in einem Bettenschlag in einer Turnhalle untergebracht. «An viel kann ich mich nicht mehr erinnern: Nur noch, dass wir in einer langen Schlange standen, bis wir unsere Betten zugeteilt bekamen und dass es fast jeden Tag Leber zu essen gab», erzählt die 61-Jährige. Kurz darauf sei die Familie dann aus Berlin ausgeflogen und in einem Lager in Giessen nähe Frankfurt untergebracht worden. Für Familie Jung begann eine turbulente und ungewisse Zeit. Fernab der Heimat ging es nun darum, einen kompletten Neuanfang zu wagen und sich eine neue Existenz aufzubauen.
Glücklicherweise besass Birgitts Vater die schweizerische Staatsbürgerschaft und fand rund ein halbes Jahr nach der Flucht eine Arbeit in der Eidgenossenschaft. Und so kam es, dass die sächsische Familie sich in Altstätten niederliess. «Anfangs hatte ich grosse Mühe, mich in der Schweiz zurechtzufinden», erinnert sich Birgitt. «Ich hatte grosses Heimweh, vermisste meine Grosseltern und meine Freunde. Ausserdem war die Umstellung von Sächsisch auf Schweizerdeutsch eine ziemliche Herausforderung.» Doch trotz dieser anfänglichen Schwierigkeiten lebte sich Birgitt gut in der Schweiz ein. Altstätten wurde zu ihrer neuen Heimat und Schweizerdeutsch zu ihrer Alltagssprache ? nur wer ganz genau hinhört, kann hie und da noch einen leichten sächsischen Akzent erahnen.

Viele emotionale Momente

Heute ist Birgitt Jung 61 Jahre alt ? die Mauer ist schon lange gefallen und die DDR gehört der Vergangenheit an. Seit ihrer Flucht hat sich also viel getan ? auch in privater Hinsicht: So schloss Birgitt in der Schweiz die Schule ab und machte eine Ausbildung zur Arztgehilfin. 17 Jahre lang arbeitete sie dann in Kliniken und Privatpraxen ? bis zu jenem Tag, an dem sie sich dazu entschloss, eine Ausbildung zur Hebamme in Angriff zu nehmen. «Damals hatte ich einfach das Gefühl, ich müsse noch was machen und mich beruflich weiterentwickeln», erklärt sie. Schon zuvor habe sie mit dem Beruf der Hebamme geliebäugelt, doch organisatorische Hürden hätten sie zunächst davon abgehalten. «Mit Anfang 30 wollte ich es trotzdem versuchen ? ich hatte die Befürchtung, dass ich es sonst irgendwann bereuen würde.» Und tatsächlich: Die Entscheidung zum Jobwechsel war die richtige: «Ich könnte mir heute keinen Beruf vorstellen, den ich lieber machen würde», gibt sie zu.

Hebamme sein als Privileg

Seit fast 24 Jahren arbeitet Birgitt Jung mittlerweile als Hebamme, über 20 davon in der Geburtenabteilung des Liechtensteinischen Landesspitals. Ihre Hauptaufgaben liegen unter anderem in der Beratung und Begleitung werdender Eltern, der Geburtsvorsorge und der Wochenbettbetreuung. «Für mich ist Hebamme sein ein Privileg. Der Job ist zwar sehr anspruchsvoll, doch man hat viele wunderschöne Erlebnisse», schwärmt sie.
Besonders spannend findet sie die Arbeit im Gebärsaal selbst. Eine Geburt zu begleiten ? also eine Frau vom Einsetzen der Wehen bis zur Entbindung des Kindes unterstützen zu dürfen ?, zählt zu den Höhepunkten ihres Arbeitalltags: «Wenn ich einem Kind auf die Welt helfen durfte und es Vater und Mutter gut geht, dann gehe ich meist mit einem zufriedenen Gefühl nach Hause», erzählt sie. Nichtsdestotrotz fordere die Geburtsbegleitung sehr viel von ihr ? gebe aber auch viel zurück: «Es sind oft emotionale Momente, die ich im Gebärsaal erleben darf. Momente, die ich als Geschenk und nicht als Teil der Arbeit betrachte. Auf diesem Weg möchte ich mich gerne bei allen Frauen dafür bedanken, dass ich Teil eines solchen Momentes sein durfte.»

Das Ende einer Ära

Solche Momente wird es für Birgitt Jung aber leider nicht mehr viele geben ? einerseits, weil sie bald in Rente gehen wird und andererseits, weil die Geburtenabteilung des Landesspitals am 1. April ihre Tore schliessen wird. Solange wird die Hebamme dem Landesspital jedoch noch erhalten bleiben, und das, obwohl die 61-Jährige ursprünglich geplant hatte, bereits im Dezember in Pension zu gehen: «Ich dachte, in dieser schwierigen Zeit kann ich nicht einfach davonlaufen. Seit fast zehn Jahren leite ich die Geburtenabteilung, und jetzt, da es zu Ende geht, will ich meine Kollegen und auch unsere Patienten nicht im Stich lassen», erklärt sie. Also bleibt sie bis zum bitteren Ende, auch wenn das Wissen, dass nach ihrer Pensionierung keine Kinder mehr in Vaduz zur Welt kommen werden, sie sehr schmerzt. «Alles, wofür ich mich eingesetzt habe, wird plötzlich weg sein. Das zu akzeptieren, ist schon ziemlich hart ? nicht nur für mich, sondern auch für meine Kolleginnen, die jahrelang ihr Bestes gegeben haben», meint sie.
Trotzdem kann sich Birgitt Jung ein wenig auf ihre bevorstehende Pension freuen: «Ich habe mir bereits eine Liste mit all den Dingen erstellt, denen ich mich in der neu gewonnenen Freizeit widmen möchte». So hat sie beispielsweise vor, wieder den Tennisschläger zu schwingen und ihre Fremdsprachenkenntnisse aufzufrischen. Vor allem aber möchte sie sich verstärkt mit ihrem Lieblingshobby beschäftigen: dem Weben. «Ich bin total angefressen, was das Weben anbelangt», gibt sie zu. So angefressen, dass sie sich sogar vorstellen könne, sich zur Weberin ausbilden zu lassen. Ihre hinzugewonnene Zeit mit Spaziergängen und Café-Touren zu verbringen, sei einfach nicht ihr Ding. «Ich brauche einfach eine Aufgabe. Und wer weiss», fügt sie augenzwinkernd hinzu, «vielleicht fehlt mir irgendwann das Hebammesein so sehr, dass ich wieder in den Beruf zurückkehre.» (sb)

 

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