«Die Politiker werden eine gute Lösung finden»
Herr Stigliano, wie haben Sie die Wahlen in Italien verfolgt?
Egidio Stigliano: Es gibt zwei Arten von Auslanditalienern. Die einen verfolgen es mit grossem Interesse und Herzblut, die anderen interessieren sich nicht – das zeigt der geringe Briefwahl-Anteil. Ich gehöre zur ersten Sorte. Gerade in der schwierigen Situation, in der Italien momentan steckt, mit einer Arbeitslosigkeit von mehr als 38 Prozent, braucht das Land jetzt vernünftige Lösungen.
Hat Sie der Wahlsieg von Giuseppe Grillo und das überraschend gute Abschneiden von Silvio Berlusconi überrascht?
Überhaupt nicht. Im Fall Berlusconi ist es klar: Wer Macht hat, der kann sie auch einsetzen. Wir sprechen immer von einer neuen Generation, und in diesem Fall kann man einen Berlusconi nie zum alten Eisen zählen. Ausserdem ist für viele Italiener das Fernsehgerät wie Aladins Wunderlampe – und über mangelnde Medienpräsenz konnte sich Berlusconi nicht beklagen. Im Falle von Peppe Grillo versammelte sich um ihn die Unzufriedenheit mit den Etablierten.
Was war das Erfolgsgeheimnis?
Silvio Berlusconi schafft es immer, den starken Mann zu spielen. Seine Versprechungen, den Menschen Steuern zurückzugeben, ist unrealistisch, aber wenn solche Parolen gebetsmühlenartig immer und immer wieder wiederholt werden, glauben es viele. Ein gutes Beispiel ist auch seine Politik mit dem AC Milan. Hier war er am Transfermarkt die ganze Saison inaktiv, doch auf dem Höhepunkt des Wahlkampfs holte er mit Mario Balotelli einen der besten Spieler Italiens zurück nach Italien. Das ist alles Show. Aber man muss vorsichtig sein: Berlusconi hat die Wahlen nicht gewonnen, er hat nur weniger verloren, als man gedacht hatte. Dieses Ergebnis sollte man nicht überbewerten. Um Berlusconi gibt es einen Personenkult und eine populistische Kultur – und eine Mehrheit der Italiener weiss, dass so ein Kult dem Land nicht guttut.
Kann man den Komiker Giuseppe Grillo ernst nehmen?
In einer Demokratie muss man jedes Wahlergebnis respektieren und ernst nehmen. Der Protest war deutlich. Jetzt wird sich zeigen, ob die Protestierenden ihren Protest auch in konstruktive Beiträge umwandeln bzw. auch rationalisieren können.
Vertreter der Grillo-Partei «Fünf Sterne» sind bereits auf regionaler Ebene in verantwortungsvollen Posten auf Sizilien oder auch in Parma. Hier sollen sie bereits positive Reformen eingeleitet haben.
Wie jede Partei haben auch die «Grillini» fähige Leute. Sie sind jung und alles andere als unrealistisch. Sie sind intelligent und nützlich für das Land. Diese Talente können für neue Kraft in Italien sorgen und stehen für eine neue Generation an Politikern.
Kann man ernst genommen werden, wenn der Chef ein «Clown» ist?
Wissen Sie: Gute Clowns haben in ihren Beiträgen sehr ernsthafte Beiträge. Sie sind mehr als die Hampelmänner, die kleine Kinder zum Lachen bringen. Ausserdem gibt es bereits Tendenzen, dass sich Grillo mehr und mehr zurückzieht. Die Showbühne ist eben doch ein anderes Terrain als das politische Parkett. Das weiss er selbst auch.
Die Wahl wird auch als ein Protest gegen die Sparpolitik der EU gewertet. Wie sehen Sie das?
Ich denke nicht, dass Italien gegen Europa ist. Die Italiener leben nicht auf einem anderen Planeten oder Kontinent. Die Italiener wissen genau, dass es sich in Europa kein Land mehr leisten kann, nicht zu sparen. Es ist sicher nicht schlecht, dass das restliche Europa ein wenig darauf schaut, dass in Italien alles mit rechten Dingen zugeht.
Was sind denn die dringendsten Probleme, die gelöst werden müssen?
Man darf nicht vergessen, dass Mario Monti damals mit Italien einen Patienten bekommen hat, der im Koma liegt. Ein Jahr reicht hier nicht, um ihn zu kurieren – es braucht eine intensive Behandlung, die über Jahre dauert. Zunächst muss eine Wahlrechtsreform her. Dann muss man schauen, dass man jene Millionen von Einwohnern, die momentan keine Steuern zahlen, ebenfalls an der Lösung des Schuldenproblems beteiligt. Es fehlt hier eine seriöse Steuerpolitik – und zwar nicht für jene, die schon Steuern bezahlen. Eine Regierung muss ihre Gesetze für die Nation (ad nationem) einbringen und nicht für einzelne Personen (ad personam). Und hier muss man sich aktuell in manchen Fällen wirklich fragen, inwieweit Italien wirklich ein demokratisches Land ist. Würde in einer anderen Demokratie ein Politiker verbal derart auf die Justitz losgehen, wäre er politisch schnell erledigt. Ein Berlusconi kann es sich aber leisten. Das ist nicht normal.
Es stehen wichtige Reformen an und Italien ist instabil. Wie viel Angst muss Europa vor Italien haben?
Ich bin davon überzeugt, dass am Ende die vernünftigen Politiker gute Lösungen finden werden. Denn in jeder Fraktion gibt es Vertreter mit einem hohen Sinn für die Politik. Ausserdem ist der Staatspräsident Giorgio Napolitano für die Italiener ein Leuchtturm, der mit Sicherheit die beste Lösung für das Land finden wird. Italien ist sich bewusst, dass die Instabilität nicht gut ist. Aber es gibt immerhin die Chance, dass eine neue Regierung in einem Jahr wichtige Reformen vollziehen kann. Gerade die Wahlrechtsreform könnte einen Weg zu mehr Stabilität bahnen. Gerade im Jahr des 300. Geburtstages von Giuseppe Verdi, dessen Musik als symbolträchtig für das Risorgimento gilt, sollte sich Italien daran erinnern, wie es geeint wurde. Nicht dass man von nachfolgenden Generationen auf die Frage «Wer ist Giuseppe Verdi?» die Antwort bekommt: «Das war doch ein Spieler von Inter Mailand.»
Persönlich
Egidio Stigliano, Jahrgang 1960, ist Präsident des CIL (Comitato Italiani nel Liechtenstein). Das CIL ist der Dachverband aller italienischen Vereine in Liechtenstein und setzt sich für die Integration und die Anliegen der italienischen Migranten ein. Er kam mit 7 Jahren zunächst illegal in die Schweiz, wo er dank des Arbeitgebers seines Vaters die Schule besuchen durfte. Für Hochschule und Studium ging er zurück nach Italien. Heute arbeitet er als Übersetzer am Italienischen Konsulat in St. Gallen und gibt Unterricht in Italienisch, Geschichte und Geografie.