Gefangen in der Tiefzinsfalle
Erinnern Sie sich noch an die globale Finanzkrise von 2008, welche die Weltwirtschaft in ihren Grundfesten erschütterte? Auf dieses Desaster reagierte die Politik in den meisten Ländern mit einem massiven geldpolitischen Stimulus. Die Zentralbanken senkten nicht nur ihre Leitzinsen auf ultratiefe Werte, sondern wagten sich mit «unkonventionellen Massnahmen» auf neues Terrain vor: Sie kauften massenhaft Wertpapiere oder Devisen, die sie mit einer enormen Ausweitung der Geldmenge finanzierten. So vergrösserte sich die Bilanz der Europäischen Zentralbank (EZB) und der amerikanischen Federal Reserve (FED) enorm. Die Bilanz der Schweizerischen Nationalbank (SNB) hat sich seit 2008 verachtfacht. Seit nunmehr über zehn Jahren betreiben die EZB und die SNB eine Geldpolitik, als seien sie im Krisenmodus. Die Schweiz startete 2019 bereits in das fünfte Jahr mit Negativzinsen. Die FED hat zwar 2018 die Leitzinsen erhöht, hat aber nach einigen Turbulenzen an den Finanzmärkten den Kurs der Zinserhöhung wieder beendet. So tiefe oder sogar Negativzinsen in einem guten konjunkturellen Umfeld wie in den letzten Jahren sind paradox. Nun könnte dem Konjunkturzyklus aber langsam die Luft ausgehen und die Chance auf eine Normalisierung der Geldpolitik scheint verpasst zu sein.
Eigentlich liegen die Gefahren der ultraexpansiven Geldpolitik auf der Hand. Die extrem tiefen Zinsen sind geradezu eine Einladung zum Schuldenmachen und so ist denn auch die private und öffentliche Verschuldung auf ein Allzeithoch gestiegen. Die EZB hat mittlerweile 25% der Staatsschulden der Euroländer aufgekauft. Eigentlich sollten die Zinsen erhöht werden, um die Schuldenexpansion zu beenden, aber die Gefahr von Staatsbankrotten und einer heftigen Rezession wird offenbar als zu gross beurteilt. Die Zentralbanken sind in ihrer Tiefzinspolitik gefangen. Die Spuren des risikoreichen geldpolitischen Experimentes sind zwar nicht bei den Konsumentenpreisen zu erkennen, aber bei den Vermögenspreisen sind sie unübersehbar. Negativzinsen lassen die Risikoprämien für Aktien sinken und haben zu einem markanten Anstieg der Wertpapierkurse geführt. Mit der steigenden Risikobereitschaft ist damit auch die Gefahr von gefährlichen Korrekturen an den Börsen gestiegen. Der Zinsrutsch nimmt auch bei den Hypotheken kein Ende. Aktuell verlangen etliche Kreditgeber weniger als 1 Prozent für zehnjährige Festhypotheken. Mehrfamilienhäuser sind allerdings seit einiger Zeit das Sorgenkind des Immobilienmarktes. Denn die Preise von Wohnrenditeliegenschaften sind in den letzten Jahren enorm gestiegen, und noch immer wird viel gebaut. Die beste Vorsichtsmassnahme gegen eine Immobilienblase wäre eigentlich eine Zinserhöhung, die aber für die SNB zurzeit nicht in Frage kommt. Tiefe Zinsen sind für Schuldner angenehm, aber wie steht es um den Sparer? Bei einer Inflation von knapp 1 Prozent und einer Rendite von 10-jährigen Bundesobligationen von rund minus
0,4 Prozent ergibt sich ein realer Verlust von 1,4 Prozent. Das ist auch in der langfristigen Betrachtung ausserordentlich und in einer Hochkonjunktur ein Novum. Negativzinsen wirken wie eine Steuer auf Ersparnisse und lassen uns deshalb auch um unsere Vorsorgegelder bangen.
Wenn die Sorgen über die Nebenwirkungen der expansiven Geldpolitik immer grösser werden, warum erhöht die SNB denn ihre Leitzinsen nicht? Weil sie befürchtet, dass ein Zinsanstieg zu einer Aufwertung des Frankens führen und uns eine Deflation und Rezession bescheren könnte. Die SNB hängt deshalb am Rockzipfel der EZB. Insgesamt bestehen kaum Zweifel, dass es richtig war, nach der Finanzkrise neue geldpolitische «Medikamente» einzusetzen. Dass aber trotz Genesung des Patienten die Medizin nicht abgesetzt wurde, ist angesichts zunehmender Nebenwirkungen schwer nachzuvollziehen. Jetzt droht die nächste «Krankheit» und man darf gespannt sein, welche Medizin allenfalls verordnet wird. Eine stärkere Dosis des alten Medikaments in Form von noch tieferen Negativzinsen oder ein neues Medikament, wie z.B. das Helikoptergeld? Jedenfalls dürfte die EZB mit ihrem geldpolitischen Entscheid den Horizont für eine Normalisierung der Geldpolitik weit hinausgeschoben haben. Selbst wenn die SNB ihren Leitzins 2020 erstmals anheben sollte, dürfte die Nulllinie frühestens 2021 überschritten werden.
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