Die Blattlaus ist wichtiger als der Hirsch
Wenn Tiere aussterben, verschwinden zuerst die grösseren und zum Schluss die kleinsten. Diesen Umstand hat ein Experiment der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) im Schweizerischen Nationalpark nachgestellt. Ziel war es herauszufinden, welche Rolle die Tiere verschiedener Grösse für das Funktionieren des Ökosystems Wiese spielen.
Von 2009 bis 2013 stellten die Forschenden um Anita Risch Zäune auf, um Tiere der Grösse nach von der Wiese auszuschliessen, wie die WSL am Montag mitteilte: Ganz aussen stand der weitmaschigste Zaun, der nur die grossen Säugetiere wie Hirsche fernhielt. Weiter innen wurden die Zäune immer engmaschiger und hielten auch kleinere Säuger wie Murmeltiere, Hasen und Mäuse zurück. Ganz innen kamen auch wirbellose Tiere wie Schnecken, Heuschrecken und Blattläuse nicht mehr durch.
Ohne die Grossen läuft es anders
Wie die Forschenden im Fachblatt "Nature Communications" berichten, funktioniert das Ökosystem ohne die grösseren Tiere zwar anders, aber nicht schlechter. Wenn keine Hirsche mehr auf einer Wiese äsen, ist es für Pflanzen kein Vorteil mehr, damit gut zurecht zu kommen. Im Vorteil sind dann schnellwüchsige Pflanzen, so dass sich die Pflanzengemeinschaft verändert.
Ohne die kleinen wirbellosen Tiere von Schnecken bis zu Blattläusen gerät jedoch das Ökosystem in Schwierigkeiten. Es werde instabil und könne sich weniger gut an sich ändernde Umweltbedingungen anpassen, hiess es.
Auf den Versuchsflächen ohne Insekten und Co. nahmen die Interaktionen zwischen Pflanzen und Bodenbakterien aber auch zwischen Pflanzen und Nährstoffen im Boden ab. Je schlechter diese Vernetzungen, desto schlechter funktioniert das Ökosystem. Das "Funktionieren" werteten die Forschenden beispielsweise anhand von im Boden verfügbaren Nährstoffen, der Bodenatmung und der Pflanzenvielfalt aus.
"Wir nahmen an, dass vor allem die grossen Tiere eine grosse Wirkung im System haben", so Risch gemäss der Mitteilung. "Unsere Ergebnisse zeigen jedoch, dass auch die kleinen, wirbellosen Tiere sehr wichtig für das Funktionieren des Systems sind."
Beunruhigender Insektenschwund
Bedeutend sind die Ergebnisse auch deshalb, weil die Artenvielfalt und die absolute Zahl an wirbellosen Tieren in Mitteleuropa in den letzten Jahrzehnten abzunehmen scheint. Insbesondere eine Untersuchung aus Deutschland sorgte dahingehend für Aufruhr: Wissenschaftler aus Deutschland, Grossbritannien und den Niederlanden werteten Daten aus, die seit 1989 vom Entomologischen Verein Krefeld in 63 Gebieten mit unterschiedlichem Schutzstatus gesammelt worden waren.
Die Daten zeigten, dass die Gesamtmasse an Fluginsekten in den letzten 27 Jahren um 75 Prozent zurückging. Für die Schweiz gibt es zwar keine vergleichbare Studie, jedoch wird auch hierzulande die gleiche Entwicklung vermutet.
"Uns beunruhigt, dass die Wirbellosen vermehrt auch in Schutzgebieten zu fehlen scheinen", so Martin Schütz von der WSL, ebenfalls Autor der "Nature Communications"-Studie. Die WSL-Forschenden warnen angesichts ihrer Ergebnisse vor einem Verlust der wirbellosen Tiere und rufen zu grösseren Anstrengungen auf, sie zu schützen. (sda)
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