Jordan Pickford ist Englands neuer Held
Jordan Pickford war ein gefragter Mann, als er am Samstag in Samara nach dem 2:0 gegen Schweden durch die Mixed-Zone lief. Immer wieder musste er anhalten, um seine Sicht der Dinge zu erklären. Bei jedem Stopp des von der FIFA gekürten "The Man of the Match" bildete sich um den 24-Jährigen eine Menschentraube. "Er hat brillant gehalten", lobte Englands Trainer Gareth Southgate seine Nummer 1.
Die Goalie-Position war vor dem Turnier in Russland als mögliche Schwachstelle der jungen Equipe der "Three Lions" ausgemacht worden. Pickford, Jack Butland (Stoke City) und Nick Pope (Burnley), die um die Nachfolge von Joe Hart kämpften, hatten gerade einmal zwölf Länderspiele vereint. Hart hatte die meisten Partien der Qualifikation bestritten, war zuletzt bei West Ham aber nicht mehr Stammtorhüter, weswegen Southgate auf seine Nominierung verzichtete.
Der langjährige Keeper von Manchester City hatte zu einem englischen Neuanfang nicht gepasst. Ihm haftete der Makel der EM vor zwei Jahren in Frankreich an, als er mit seinem kapitalen Fehler am Ursprung der peinlichen 1:2-Niederlage im Achtelfinal gegen Island stand. Hart und seine Kollegen machten sich zum Gespött der Fussball-Welt – nicht zum ersten Mal.
Hart stand am Ende einer Reihe englischer Goalies, die mehr aufgrund ihrer eklatanter Fehler als durch ihre Paraden auffielen. Begonnen hatte die schwarze Serie mit David Seaman, der sich an der WM 2002 im Viertelfinal gegen Brasilien von einem Freistoss von Ronaldinho überraschen liess. Ihm folgte David James, aufgrund seiner zahlreichen Patzer nur "Calamity James" genannt. Paul Robinson und Scott Carson traf eine Mitschuld, dass England die Qualifikation für die EM 2008 verpasste. Ihre Fehler im Hin- und Rückspiel gegen Kroatien wurden zum Youtube-Hit. An der WM 2010 folgte ihnen Robert Green, der im Gruppenspiel gegen die USA (1:1) einen einfachen Schuss passieren liess.
Pickford liess sich bisher noch nichts zu schulden kommen. Mit dem Druck geht er gelassen um. "Kritik lässt mich kalt, ich fürchte mich vor nichts", sagte er nach dem Sieg gegen Schweden. Für Trainer Southgate ist er "der Prototyp des modernen Torhüters". Im Gegensatz zu seinen Vorgängern ist die Ballbehandlung mit dem Fuss eine der Stärken Pickfords. "'Pick' ist ein Top-Keeper und war an diesem Turnier bislang überragend", sagte Abwehrchef John Stones. Und Eric Dier ergänzte: "Er hat eine herausragende Saison bei Everton gespielt und setzt diese nun hier fort."
Der Aufstieg Pickfords auf die grosse Bühne verlief rasant, nachdem er vor einem Jahr noch unter Southgate an der U21-EM das englische Tor gehütet hatte. Mit seinem Wechsel von Absteiger Sunderland zu Everton für rund 35 Millionen Franken avancierte er im letzten Sommer zwar zum teuersten englischen Keeper der Geschichte, sein Debüt in der Nationalmannschaft gab der 24-Jährige aber erst im Herbst beim 0:0 gegen Deutschland. Gegen Schweden bestritt Pickford sein achtes Länderspiel.
Ein Mangel an Erfahrung oder Nervosität ist Pickford bislang aber nicht anzumerken. Zwar kam nach dem Gegentreffer gegen Belgien (0:1) wegen seiner relativ geringer Grösse von 1,85 m leise Kritik auf, gegen Kolumbien und Schweden blieb er aber makellos. Im Achtelfinal zeigte er einige herausragende Aktionen, ehe er mit seiner Parade im Penaltyschiessen den englischen Penalty-Fluch beendete. Den Spickzettel hatte Pickford auf seine Wasserflasche geklebt. Gegen Schweden hielt er die drei schwedischen Torschüsse spektakulär und verhinderte damit, dass der erste englische Halbfinal-Einzug an einer WM seit 1990 noch in Gefahr geriet.
So entwickelte sich die vermeintliche englische Schwäche als Stärke, ist Pickford doch neben Captain und Topskorer Harry Kane der bislang beste englische Spieler. Grosse Töne spuckte der Aufsteiger deswegen jedoch nicht. "Wir nehmen Schritt für Schritt und sehen von Spiel zu Spiel.“ Die nächste Bewährungsprobe für ihn und seine Kollegen ist der Halbfinal am Mittwoch gegen Kroatien. Ob England Weltmeister werden kann? "Das sehen wir am 15. Juli", sagte Pickford. Vorher macht er nur eines: Den Moment geniessen. (sda)
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